piwik no script img

Bürgermeisterwahl in Istanbul„Alles wird sehr schön werden“

Bis vor Kurzem war Ekrem İmamoğlu völlig unbekannt. Doch jetzt ist der Mann, der am Sonntag in Istanbul erneut zur Bürgermeisterwahl antritt, ein Star.

Gilt auch beim zweiten Mal als Hoffnungsträger: Ekrem İmamoğlu Foto: afp

„Da kommt er“, übertönt ein Schrei den Lärm auf dem Platz und sofort meldet sich ein vielstimmiger Sprechchor mit „Ekrem! Ekrem!“-Rufen, begleitet von begeistertem Klatschen. Es ist ein Fehlalarm, doch die Menge lässt sich ihre gute Laune nicht verderben. Eine Gruppe tanzt nach einem Song aus den Boxen eines Lautsprecherwagens, der einen Slogan variiert, der seit Wochen die Straßen Istanbuls dominiert. „Her şey çok güzel olacak!“. „Alles wird sehr schön werden“, lautet der Spruch, mit dem Ekrem İmamoğlu für seine Wiederwahl zum Oberbürgermeister von Istanbul am kommenden Sonntag wirbt, ein Spruch, der spontan von einer Künstlerin vertont wurde und sich mittlerweile vielfach in Kreationen im Internet, aber auch auf T-Shirts und an Häuserwänden wiederfindet.

Seit über einer Stunde warten mehrere tausend Menschen nun schon auf einer staubigen Kreuzung im Istanbuler Stadtteil Bayrampaşa auf den Kandidaten. Bayrampaşa gehört zu den armen, vernachlässigten Vierteln der Stadt. Wer Bayrampaşa hört, denkt als Erstes an den größten Knast der Stadt, der sich bis vor ein paar Jahren hier befand. Es ist ein heißer Sommertag, es ist Freitagnachmittag, das Wochenende hat begonnen, doch niemand geht weg. Im Gegenteil, es werden immer mehr Menschen. Einige über die Kreuzung gespannte Transparente des Kandidaten sind alles, was auf den Auftritt İmamoğlus aufmerksam macht. Es gab auch keine Werbung, Mundpropaganda genügt.

Das ganze Viertel ist auf den Beinen, alle wollen den neuen Star der türkischen Politik sehen. „İmamoğlu wird dem Land wieder Demokratie und Gerechtigkeit bringen“, sagt eine ältere Frau aus voller Überzeugung. Den Einwand, es gehe doch nur um die Wahl zum Istanbuler Oberbürgermeister, lässt sie nicht gelten. „Das ist doch nur der Anfang.“

Dann endlich kommt er wirklich. Nur im Schritttempo kann sich der Bus durch die Menge schieben. Nicht nur Jugendliche, auch ältere Menschen drängen sich um das Gefährt, wo İmamoğlu aus dem Seitenfenster neben dem Fahrer versucht, all die Hände zu schütteln, die sich ihm entgegenstrecken. Mitten auf der Kreuzung bleibt der Bus stehen. Kaum hat ein auf das Dach des Busses gekletterter Ansager ihn angekündigt, springt İmamoğlu auch schon aus der Luke, tänzelt ein paar Schritte zu allen Seiten, um das Publikum zu grüßen, und legt dann los, als seien die Bewohner von Bayrampaşa die ersten und einzigen Menschen, denen er sich widmen würde.

Trendsetter Istanbul

Die Stadt der Städte Istanbul ist in jeder Beziehung der Trendsetter für die gesamte Türkei. Mit rund 16 Millionen Einwohnern ist sie fast viermal so groß wie das zweitplatzierte Ankara. In der Hauptstadt Ankara befinden sich zwar die Ministerien und die gesamte Bürokratie, doch Wirtschaft, Medien und Kultur sind in Istanbul zu Hause. Der Großraum Istanbul erwirtschaftet fast 40 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts des Landes.

Reiche Kommune Entsprechend hoch ist der Etat der Stadt. Während andere Kommunen auf die Geldüberweisungen aus Ankara angewiesen sind, ist das in Istanbul nicht der Fall. Im Gegenteil, mit dem Geld aus Istanbul konnte die AKP bislang ihre Günstlingswirtschaft finanzieren. Deshalb gilt der frühere Spruch Recep Tayyip Erdoğans noch heute: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ (JG)

Der Mann, der aus dem Nichts kam

Seine ersten Sätze gehen in einem ohrenbetäubenden Jubel unter, dann kann er sich langsam Gehör verschaffen. In Zeiten von YouTube, Instagram und Twitter hat die Szene einen geradezu archaischen Charakter. Doch die Leute wollen ihren Hoffnungsträger von Angesicht zu Angesicht sehen, am liebsten sogar anfassen. Vor einigen Wochen, als er noch spontan auf Wochenmärkten auftauchte, wurde er von den Menschen, die ihn alle einmal umarmen wollten, nahezu erdrückt.

Ekrem İmamoğlu ist ein Phänomen. Er ist für einen türkischen Politiker mit 49 Jahren relativ jung. Noch zu Beginn des Jahres kannte ihn außerhalb des Istanbuler Vorortes Beylikdüzü, wo er als Bezirksbürgermeister amtierte, kaum jemand. Jetzt, nur wenige Monate später, ist er der große Hoffnungsträger für alle, die das autoritäre Regime von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan schon lange satt haben. „Jahrelang haben wir auf dich gewartet“, steht auf einem Schild, das eine Frau İmamoğlu in Bayrampaşa wie einem Erlöser entgegenstreckt. Es scheint, dass der Mann überall offene Türen einrennt.

Seine Statur gewonnen hat İmamoğlu in der Wahlnacht vom 31. März auf den 1. April. Bis dahin war er einer von mehreren Oppositionskandidaten, denen bei der landesweiten Kommunalwahl Chancen eingeräumt wurden, eine der großen Städte des Landes gegen den Machtapparat der regierenden AKP zu gewinnen. Als sich in der Wahlnacht dann nicht nur in Ankara, Adana, Antalya und Izmir ein Sieg der Opposition abzeichnete, sondern es auch in Istanbul zu einem ganz engen Kopf-an-Kopf-Rennen wurde, kam die Stunde von Ekrem İmamoğlu.

Er zeigte Präsenz, er rief die zentrale Wahlkommission immer wieder auf, sich fair und rechtsstaatlich zu verhalten und nicht dem Druck der Regierung nachzugeben, als sich deren Kandidat Binali Yıldırım mitten in der Nacht zum Sieger erklärte. Und tatsächlich erreichte İmamoğlu, dass der Vorsitzende der Wahlkommission am Vormittag des 1. April vor die Presse trat und verkündete, dass İmamoğlu nach Auszählung fast aller Wahlkreise mit rund 30.000 Stimmen vor Erdoğans Kandidat liegt und damit die Wahl gewonnen hat.

Diese Szene ist zu einem Schlüsselmoment für die türkische Politik geworden. Weil Erdoğan den eigentlichen AKP-Kandidaten Binali Yıldırım völlig verdrängt und höchstpersönlich den Wahlkampf in Istanbul geführt hatte, sah İmamoğlu plötzlich wie der Sieger gegen Erdoğan aus.

Der einzige Gegenspieler Erdoğans

Erdoğan machte dann einen zweiten, noch gravierenderen Fehler. „Als er die Wahlwiederholung erzwang, hatte er İmamoğlu endgültig zu seinem großen Gegner geadelt und ihn damit zum Hoffnungsträger für alle Oppositionskräfte in der Türkei gemacht.“ Das sagt ein deprimierter AKP-Funktionär in Istanbul, der namentlich nicht genannt werden möchte. Und weil alle anderen Parteien zur Unterstützung İmamoğlus ihre Kandidaten in dieser Wiederholungswahl zurückgezogen haben, ist er jetzt tatsächlich der einzige Gegenspieler Erdoğans. İmamoğlu hat diese Rolle glänzend angenommen.

Gegen Erdoğans aggressive Rhetorik, mit der er alle seine Kritiker pauschal zu Vaterlandsverrätern und Terrorhelfern zu machen versucht, setzt İmamoğlu auf Versöhnung und eine positive Vision für das Land. Ganz im Gegensatz zu Erdoğan redet er nicht von „uns“ und den „anderen“, sondern bemüht sich, alle Türken mitzunehmen.

Das wird besonders in seinem Umgang mit religiösen Menschen deutlich. Just an dem Abend, als der AKP-Sprecher verkündete, die Mehrheit der Wahlkommission habe eine Wahlwiederholung beschlossen, wurde İmamoğlu als Gast einer armen, religiösen Familie beim Fastenbrechen am Ende des ersten Ramadan-Tages beobachtet. Er geht regelmäßig in die Moschee, kommt aus einer konservativen Familie, die von Trabzon am Schwarzen Meer nach Istanbul eingewandert ist. „Soziologisch und kulturell ist er eigentlich einer von uns“, sagte der AKP-Funktionär, der in Istanbul die erste AKP-Niederlage nach 18 Regierungsjahren befürchtet.

Doch İmamoğlu, der Betriebswirtschaft auf Englisch studierte und in Human Resources einen Master machte, trat 2003, ein knappes Jahr nach der Wahl Erdoğans zum Ministerpräsidenten, in die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) ein, in einer Situation, in der er leicht in der AKP hätte Karriere machen können. Ganz unabhängig von seinem Glauben, wollte er die säkulare Republik verteidigen, sagt er in einem seiner vielen Interviews seit seinem Wahlsieg am 31. März.

Gegenkandidat Yıldırım – eine tragische Figur

Seine persönliche Geschichte und seine so selbstverständlich offenbarte private Religiosität machen İmamoğlu weit über die säkular-kemalistische Kernopposition hinaus für viele Wähler attraktiv. Er geht auf die Straße, er redet mit jedem, er interessiert sich wirklich für die Probleme der Leute. „Wer sich nicht für die ökonomischen Probleme der Leute und für die Ungerechtigkeiten, mit denen viele arme Bürger konfrontiert sind, interessiert, wird bei der Wahl keine Chance haben“, schrieb er in einem Beitrag für die Washington Post. „Die Leute wollen nichts mehr hören über große Bauprojekte oder wichtige Investitionsstrategien.“

Damit beschreibt er, ohne ihn beim Namen zu nennen, exakt seinen Gegenkandidaten Binali Yıldırım. Yıldırım ist seit Jahren Erdoğans Mann für Großprojekte. Jahrelang war er der Transport- und Verkehrsminister der Republik und hat im Auftrag Erdoğans Tunnels, Brücken, Autobahnen und Flughäfen gebaut, bis noch das letzte Grün unter Beton zu verschwinden drohte.

Yıldırım versteht nicht, dass ein „noch mehr davon“ die Menschen nicht mehr begeistert, sondern eher abschreckt. Von Erdoğan in einen Wahlkampf in Istanbul gezwungen, den er als 64-jähriger Mann, als Ex-Transportminister, Ex-Ministerpräsident und Ex-Parlamentspräsident gar nicht mehr führen wollte, droht er nun zu einer tragischen Figur zu werden.

Istanbuler stöhnen über ihre zubetonierte Stadt

In einem Fernsehduell mit İmamoğlu zählt Yıldırım wieder und wieder auf, was er im Laufe der letzten 18 Jahre alles gebaut hat, doch begeistern kann er damit niemanden mehr. Im Gegenteil, die Istanbuler stöhnen über ihre zubetonierte Stadt. Da wirkte es geradezu lächerlich, wenn Yıldırım im TV-Duell eine Schautafel in die Kamera hält, auf der grüne Schneisen eingezeichnet sind, die er angeblich für Istanbul plant.

Außerdem zeigt sich jetzt, wie teuer die privat finanzierten Bauwerke für die Bürger im Nachhinein werden, die sie über hohe Gebühren und staatliche Zuschüsse an die Firmen abbezahlen müssen. Gerade die letzten Prestigeprojekte wie der neue Istanbuler Megaflughafen, die dritte Bosporus-Brücke und der Autotunnel unter dem Bosporus drohen den Staatshaushalt auf Jahrzehnte hinaus zu belasten.

Doch das alles macht einen Sieg İmamoğlus am kommenden Sonntag zwar möglich, wahrscheinlich wird er aber erst dadurch, dass hinter dem Kandidaten eine fast perfekt funktionierende Wahlkampforganisation steht. Während Recep Tayyip Erdoğan in den letzten zwei Jahren immer wieder beklagt hat, dass seine Partei müde geworden sei und insbesondere in Wahlkämpfen das nötige Engagement vermissen lasse, ist bei seinen Gegnern genau das Gegenteil der Fall.

Nichts von verschlafenem Teestuben-Hinterzimmer

Die sozialdemokratische CHP hat nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie immer nur verloren hat, jetzt endlich dazu gelernt. Am Rande eines Industriegebietes zwischen den Banken und Hochhaustürmen in Levent und Maslak betritt man durch einen unscheinbaren Eingang ein Fabrikgebäude, das auf mehreren Etagen die Wahlkampfzentrale von Ekrem İmamoğlu beherbergt.

Alles hier erinnert eher an amerikanische Wahlkämpfe oder die legendäre SPD-Kampa, mit der Franz Müntefering Gerhard Schröder 1998 in Deutschland zum Sieg führte, als an die früheren, verschlafenen Teestuben-Hinterzimmer, von denen aus die älteren Herren der Republikanischen Volkspartei (CHP) mit Atatürk-Postern gegen Erdoğan gewinnen wollten. Jetzt vibriert hier eine dynamische Wahlkampforganisation, in der überwiegend junge Leute, bis unter die Haarwurzeln motiviert, die Auftritte İmamoğlus organisieren und den Wahltag vorbereiten.

So sehr Ekrem İmamoğlu Wert auf seinen persönlichen Straßenwahlkampf legt, richtiges Gewicht bekommen diese Begegnungen mit den Menschen erst dadurch, dass sie enorm professionell in den sozialen Medien verbreitet werden. Beim Gang durch die Wahlkampffabrik begegnet man unentwegt jungen Leuten, die ihre Smartphones bearbeiten oder sich in größeren Runden im Stehen um Konferenztische versammelt haben, um einen speziellen Event vorzubereiten oder auch um die vielen Freiwilligen, die den Wahlkampf von İmamoğlu unterstützen möchten, in ihre Jobs einzuweisen.

Es ist wie in der Frühphase Erdoğans

Das scheinbar Spontane ist gut geplant. Wo İmamoğlu am nächsten Tag auftritt, wird erst in der Nacht zuvor bekannt gegeben. „Aus Sicherheitsgründen“, sagt Oğuz Kaan Salıcı, einer der zentralen Wahlkampfmanager, „aber auch, damit der Gegner sich nicht darauf einstellen kann.“ Salıcı steht mit den Meinungsforschern in engem Kontakt und hat alle Umfragen im Kopf, auch die, die die AKP in Auftrag gegeben hat. „İmamoğlu liegt stabil vier bis sechs Prozent vor Yıldırım“, sagt er. Deswegen kommt Erdoğan auch dieses Mal nicht zum Wahlkampf nach Istanbul. „Er will für die absehbare Niederlage nicht verantwortlich gemacht werden.“

İmamoğlu steht heute da, wo Erdoğan 2002 war. Er ist ein Opfer der Mächtigen, die ihm seinen Wahlsieg aberkannt haben. Er kann glaubhaft für Demokratie werben und gegen die verkrusteten und korrupten Strukturen, die das Land lähmen, agitieren. Es ist wie in der Frühphase Erdoğans. Wo er auftritt, jubeln ihm die Leute zu, weil er nach 18 Jahren AKP die Hoffnung auf Veränderung verkörpert.

Das ist selbstverständlich nicht auf Istanbul beschränkt, auch wenn die Metropole den Takt vorgibt. Unterstützung für İmamoğlu kommt aus der ganzen Türkei. „Erst werden wir Istanbul gewinnen, und dann werden wir sehen, ob Erdoğan noch die weiteren vier Jahre, für die er gewählt ist, im Amt bleiben wird“, sagt Oğuz Kaan Salıcı. Denn in der AKP gärt es. Viele, die von Erdoğan enttäuscht sind, denken über die Neugründung einer konservativ-liberalen Konkurrenzpartei nach. Ehemalige AKP-Minister bis hin zum früheren Präsidenten Abdullah Gül arbeiten daran. Spätestens im Herbst wollen sie an die Öffentlichkeit treten. Wie immer es am kommenden Sonntag in Istanbul ausgeht, schreiben übereinstimmend verschiedene Kommentatoren, İmamoğlu ist zum Katalysator für den Niedergang Erdoğans geworden.

Das AKP-Büro in Kuzguncuk, ein Trendbezirk auf der asiatischen Seite Istanbuls, ist bereits geschlossen worden. Es wird gerade zu einem Café umgebaut.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!