: Bürgerliche Lebensweisen
■ betr.: „Schröder schunkelt mit der Autolobby“, taz vom 19. 2. 96, „Schröder fliegt auf Volkswagen“, taz vom 20. 2. 96. „Man muß so et was offenlegen‘“, taz vom 21. 2. 96
Lieber ehemaliger Genosse Gerhard Schröder,
nun bist Du also endlich als MSler (monarchistisch-sozialdemokratisch) geoutet. Die Berichterstattung über Deinen Opernballbesuch hat mich an eine Begebenheit erinnert, die etwa 25 Jahre zurückliegen dürfte.
Wir saßen seinerzeit im trauten Juso-Kreis im Göttinger „Nörgelbuff“ (ob Detlef von Larcher auch dabei war, weiß ich nicht mehr) und echauffierten uns bei Schmalzstullen und „Göttinger Ekelpilz“ über bürgerliche Lebensweisen. Du als damals angehender Rechtsreferendar hast dann vorgeschlagen, wir sollten doch zum gerade in der Stadthalle stattfindenden Juristenball marschieren und ein go-in (so nannte man das damals) veranstalten. Aus mir nicht mehr näher erinnerlichen Gründen ist das aber unterblieben, obwohl wir die Idee alle nicht schlecht fanden.
Stell Dir vor, Gerhard, wir alle hätten damals schon Dein Opernball-Debüt als déjà-vu erlebt. Kaum auszudenken, wie du danach das „Nörgelbuff“ verlassen hättest. Wie machtgeil muß eigentlich jemand sein, der derartig dekadenten Vorstellungen, deren Teilnahme er vor vielen Jahren glatt als Folter bezeichnet hätte, heute mit zur Schau getragener Lust frönt?
Und, lieber Gerhard Schröder, wie macht eigentlich ein Sozialdemokrat seinen (ehemaligen?) Wählern klar, daß er mal soeben den gesamten Jahresetat eines Sozialhilfeempfängers an einem Abend verjubelt, während dieser in Zukunft nach Deinen Forderungen den Gürtel noch enger schnallen soll?
Solltest Du nur noch ein Fünkchen Anstand haben, müßtest Du eigentlich – siehe Dein ehemaliger Kollege Späth – sofort zurücktreten. Ich befürchte aber, und das bestätigen Deine ersten Reaktionen, Du wirst wie alle geouteten Vorgänger jede moralische Verfehlung weit von Dir weisen und statt dessen über die Medien und solche Neider wie mich herziehen. Kalle Bartens-Winter, ehemali-
ger Genosse aus dem Göttinger
Juso-Vorstand
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