Bürgerkrieg in Libyen: Junis, der Märtyrer
Beim Freitagsgebet ist der ermordete Militärchef der alles überstrahlende Held in Bengasi. Die Prediger bekommen immer mehr Einfluss.
BENGASI taz | "Märtyrer Junis." Mr Hamed deutet auf die Silhouette, die sich an der Hafenpromenade von Bengasi abzeichnet. Gut 200 Meter weiter hinten ist er vertäut - der Tanker, den die Rebellen vor ein paar Tagen von der Regierung erbeuten konnten. Bis jetzt heißt das Schiff noch "Cartagena". Doch, so versichert der graubärtige Ingenieur: das Schiff wird umbenannt und heißen wie der ermordete Militärchef. Wäre es so - es passte zur Umgebung.
An den Straßen, die auf das Gerichtsgebäude zuführen, das Herz der Revolution, auf dem großen Gebetsplatz davor, an Laternenpfählen, Wänden, überall prangen, auf Leinwand gedruckt die Fotos: Junis als Denker, Junis privat mit Sonnenbrille, Junis in voller Montur mit Orden und Ehrenzeichen, die Finger gespreizt, man weiß nicht, ob er das Victory-Zeichen macht oder den Betrachter segnet. Junis, der Held, Junis, der Märtyrer. Ehe er im Februar 2011 die Seiten wechselte, war der General Gaddafis Innenminister - und selber für das Martyrium von Oppositionellen verantwortlich. Doch wer will das heute hören?
"Einer von uns, wir kennen seine Familie." "Ein starker Mann." "Er hätte unsere Armee nach Tripolis geführt." So heißt es unter denjenigen, die zum Freitagsgebet unterwegs sind. Dort wo die Hafenpromenade auf den Gebetsplatz führt, kontrollieren Soldaten die Passanten. "Alles hat der Märtyrer für uns getan", sagt einer von ihnen. "Uns eingekleidet, als wir keine Uniformen hatten, uns mit Waffen versorgt, als wir sie brauchten, uns organisiert."
An die neue religiöse wie politische Freiheit hat sich auch der 25-jährige Imam Nabil Sati erst gewöhnen müssen. Aber von Beginn der Revolution an hat er sich dem Nationalrat für den Übergang angeschlossen - wie die meisten der 1.200 Imame der Stadt Bengasi.
42 Jahre lang haben wir auf diese Freiheit verzichten müssen, beklagt er. Und die Angst hat uns daran gehindert zu handeln, führt er aus. Natürlich seien alle Imame dem Weg gefolgt, den Gaddafi vorgegeben habe, er auch. Das habe ihn aber nicht davor bewahrt, von der Militärpolizei verhört zu werden. "Sie fragten mich nach meiner Familie, meiner Frau, nach meinen Neffen, die im Ausland leben", berichtet Nabil Sati. Alle Gebete seien beständig überwacht worden. Gaddafi erwartete, dass alle Imame nur seine Parolen weitergaben. Ihm sei einmal für sechs Wochen verboten worden zu predigen. Andere Imame seien im Gefängnis gelandet.
Aber seine heutige Rolle sei es, die Stimme des Volkes zu sein. "Ich fürchte mich nur noch vor Gott und vor sonst niemandem", sagt der Imam. Die neu gewonnene Freiheit könnte ihn durchaus noch in Konflikt mit der neuen Obrigkeit bringen. (taz)
Dann entschuldigen sie sich, dass sie in Taschen einen Blick zu werfen haben. Dies sei erst das zweite Freitagsgebet nach der Ermordung des Generals. Mit Bomben und Attentaten sei zu rechnen. Durch wen? "Tabor Chamis. Sie haben Junis umgebracht. Tabor Chamis ist überall." Tabor Chamis, die "fünfte Gruppe", oder besser: Fünfte Kolonne, bezeichnet Gaddafis Schläfer, seine Geheimdienstleute, die viele in Bengasi vermuten.
Wie beim Popkonzert
Auf dem Gebetsplatz stehen vor der Tribüne Türme mit Lautsprecherboxen - aufgebaut wie bei einem Popkonzert. Im Hintergrund hängt ein überlebensgroßes Porträt des Militärchefs. Imam Nabil Sati betritt die Bühne gravitätisch, räuspert sich, konzentriert sich einige Sekunden und schreit dann ins Mikrophon, dass die Gehäuse klirren. Der Mann in der braunen Festtags-Galabiya genießt die Wirkung seiner Stimme, schmettert, kreischt, lässt sie wieder abschwellen, setzt Pausen, zieht langsam wieder die Geschwindigkeit an, raunt und dann auf einmal brüllt er wieder. Die Kontraste sind sorgfältig berechnet.
Inhaltlich geht es weniger abwechslungsreich zu, stattdessen: Der Krieg gegen den Tyrannen ist religiöse Pflicht. Er muss weitergehen, auch im Ramadan. In West und Ost, an allen Fronten gibt es Erfolge! Weiter so, bis der Böse fällt! Wenige Tage nach dem Verlust des Militärchefs wären eigentlich andere Töne zu erwarten - Einkehr, Bilanz: ist man noch auf dem richtigen Weg?
Laut Ali Tarhuni, Finanzchef des Übergangsrats, ist der General von den Dschirah-al-Obeidi-Brigaden ermordet worden. Die Miliz bezeichnete er vor Reportern als eine islamistische Splittergruppe. Wäre das so, wäre es dann nicht Zeit, zu untersuchen, ob die diversen selbsternannten Kommandeure mit ihren "Revolutionären" nicht eine bedenkliche Eigendynamik entwickeln - und den Politikern über den Kopf wachsen.
"Es gibt nur einen Dschihad: gegen Gaddafi."
Nach seinem Auftritt hört sich Imam Nabil die Frage an und schüttelt energisch den Kopf. Es gibt keine islamistischen oder dschihadistischen Brigaden, konstatiert er. Nur einen einzigen Dschihad, den alle gemeinsam führen: gegen Gaddafi. Und Ali Tarhunis Statement? "Ist unhaltbar. Er verfügt über keine Informationen und ist von anderen Ratsmitgliedern bereits für seine Äußerung gerügt worden. Tabor Chamis, die Fünfte Kolonne, hat den General getötet." Wie soll es nach dem Attentat jetzt weitergehen? "Wir brauchen einen dritten Weltkrieg, der so lange dauern muss, bis Gaddafi weg ist." Und dann? "Kommt ein Staat, in dem die Scharia eine wichtige Rolle spielt, in dem weltliches und religiöses Recht parallel laufen und einander ergänzen."
Das sah man im Übergangsrat bisher ganz anders, ebenso wie in der Religionsbehörde von Bengasi. Ein einziges Recht, so lautete bisher die Zielvorgabe. Wenn es um Ehe und Familie geht, sind Elemente der islamischen Tradition mit aufzunehmen. Ein paralleles Scharia-System, wie etwa in Marokko und Ägypten, soll vermieden werden. Doch je länger der Krieg dauert, desto mehr Einfluss scheinen Agitatoren wie Imam Nabil zu gewinnen. Oder Männer wie Adel Elhas. Der Mittvierziger war nie Soldat. In den ersten Tagen der Revolution traute er sich mit einem riesigen Anti-Gaddafi-Plakat auf die Straße. Al-Dschasira filmte ihn, die Bilder gingen um die Welt. Dank seiner Popularität führt Elhas jetzt ein paar hundert Männer auf einer Militärbasis am Stadtrand von Bengasi. In seinem Büro zeigt er das Video, das ihn berühmt machte. Gewehrträger im Kampfdress umschwirren ihn. Draußen stehen Pick-ups mit dem Logo seiner Einheit an den Türen: "Freies Libyen".
Kommandeur Adel kennt die Kameraden von der Al-Obeidi-Brigade, jener, die General Junis verhaftet hat. Nette Jungs, zuverlässig, man habe sich bei den Kämpfen in Brega immer wieder getroffen. Islamisten? Elhas schüttelt den Kopf. "Wir sind alle Muslime, wir tragen Bärte, aber wir wollen Demokratie."
Sollten die unabhängigen Kampfgruppen nicht besser aufgelöst werden, zugunsten einer einzigen regulären Armee? Dafür sieht er nicht den geringsten Grund. "Wir haben uns wie alle anderen auch dem Oberkommando, dem Verteidigungsministerium unterstellt. Wieso also das System ändern?" Ein paar seiner Männer stecken die Nasen ins Büro, treten mit ihren Gewehren ein, um für Fotos zu posieren. Sie sehen nicht aus, als hätten sie Lust, bald ins Zivilleben zurückzugehen.
Endlosclips am Nachmittag
Während des langen Ramadan-Nachmittags bieten die neuen Fernsehsender der Revolution Endlosclips von ähnlichen jungen Männern, die zum Klang der neu-alten libyschen Hymne alle Arten von MGs abfeuern, über Dünen springen, auf Pick-ups fahren oder Panzerfäuste auf Gaddafi-Fahrzeuge abfeuern. Man schaltet ab, schaltet nach Stunden wieder an: Es knallt und knattert und singt immer noch.
Vielleicht macht sich jetzt bemerkbar, dass es in Libyen seit langem keine Zivilgesellschaft gibt. Vielleicht liegt es an der Amtspause im Ramadan, dass sich eitle Prediger und Kommandeure im Tarnfleck zusehends in den Vordergrund spielen, auf Kosten der Politiker. Bengasi jedenfalls scheint sich in eine Art Autismus einzuspinnen.
Fragen liegen auf dem Tisch, die schnellstens zu beantworten wären: Wer steht hinter dem Mord am Militärchef? Kontrolliert der Übergangsrat noch sämtliche der revolutionären Kampfgruppen? Gibt es Splittergruppen, die eine eigene Agenda verfolgen?
Doch statt den Weg zu betrachten, den man gerade geht, blicken viele lieber auf: zu Junis, dem Anti-Gaddafi, zu Junis, dem Märtyrer.
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