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Bündnis 90/ Grüne nehmen Kurs auf Europa

■ Parteitag verabschiedet Europaprogramm und wählt die Kandidatenliste

Berlin (taz) – Der Zeitpunkt für einen Europaparteitag könnte kaum besser gewählt sein. Während gestern noch Helmut Kohl per eilig anberaumter Regierungserklärung die wachsenden Zweifel am Europakurs seiner Partei auszuräumen suchte, dürfen sich Bündnis 90/ Die Grünen ab heute in Aachen als berechenbare Europapartei präsentieren. Denn die EG-kritischen Positionen aus den Zeiten vor der Vereinigung, sind heute einer deutlich positiveren Einstellung gewichen. Die beiden Parteien reagieren spiegelverkehrt. In der Union, die sich bislang gerne als die Europapartei gerierte, gewinnen diejenigen an Boden, die die Vereinigung auch als Chance für souveräne, nationale Interessenpolitik begreifen: Westbindung und Europa erscheinen ihnen zunehmend als Fessel. Die Grünen hingegen assoziieren den europäischen Einigungsprozeß in dem Maße als positive Entwicklung, in dem ihr Unbehagen an deutscher Dominanz wächst. Die frühere Kritik an zentralistischen, technokratischen und undemokratischen Tendenzen des EG-Prozesses wird zwar nicht aufgegeben; doch während sie früher eine deutlich ablehnende Haltung begründete, wird sie heute vom EG- freundlichen Grundkonsens überwölbt: „Es wäre verhängnisvolle Kurzsichtigkeit, das europäische Haus, an dem viele Generationen gebaut haben, wieder einzureißen, um einen neuen Architektenwettbewerb auszuschreiben“, heißt es im Entwurf für das neue Europaprogramm, das in Aachen verabschiedet werden soll. In diesem Kontext stand auch die Maastricht-Klage grüner EuropapolitikerInnen in Karlsruhe. Sie gründete nicht auf der früheren EG- Feindlichkeit, sondern versuchte, ein Mehr an Demokratie auf (noch) nationalem Wege durchzusetzen. Der bündnisgrüne Programmentwurf, an dem unter anderen Albert Statz, Andrea Fischer, Reinhard Bütikofer, Reinhard Weißhuhn und Frieder O.Wolf mitgearbeitet haben, präzisiert denn auch frühere Kritikpunkte und propagiert einen „Dreiklang der Reform: Gesamteuropa, Demokratie, soziale Ökologie“. Doch auch im Hinblick auf die „grundlegende reformerische Wende“ sind Bündnis/ Grüne eher zurückhaltend geworden. Statt „glatter Formulierungen findet sich in den 48 Seiten schon mal Politpoetisches: „Die Umgestaltung ist wie der Weg durch eine unbekannte Furt: nur zögernd, Schritt für Schritt, können wir uns vorantasten.“ Die Grünen propagieren ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten in dem „einer verbindlichen Basis“ von Mindeststandards, etwa im sozialen oder ökologischen Bereich, die Forderung gegenübersteht, „nicht zu viel zu vereinheitlichen“. Das „Europa der Regionen“ soll durch eine Regionalkammer gestärkt werden. Im Interesse Gesamteuropas fordern die Grünen eine „abgestufte Integration“ der mittel- und osteuropäischen Reformstaaten, deren demokratischer Neuaufbau anders nicht zu stabilisieren sei. Die Grünen sprechen sich gegen einen „vollausgebauten europäischen Bundesstaat“ aus. Die Vorstellung, „im 21. Jahrhundert quasi den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts auf supranationaler Ebene und mit entsprechendem weltpolitischem Anspruch zu wiederholen“, erscheint als „Chimäre“.

Während in der Programmdebatte kaum Kontroversen absehbar sind, wird es bei der Europaliste eng. Die Europawahl ist der erste bundesweite Test nach dem West-Grünen Debakel von 1990. Bis gestern hatten 38 BewerberInnen ihr Interesse an einem der zehn als sicher geltenden Listenplätze angemeldet. Erstmals hatte der Bundesvorstand Kriterien formuliert, nach der einzelne Regionen Kandidaten für die Wahl in Aachen nominieren sollten. So erhielt die Europaabgeordnete Hiltrud Breyer das Votum der Landesverbände Rheinland-Pfalz, Hessen und Saarland, Undine von Blottnitz geht für die nordwestdeutschen Landesverbände in die Wahlen, Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf und Claudia Roth haben das Votum aus NRW. In Berlin, wo das Kandidatengedränge besonders eng war – es kandidieren Brigitte Cramon-Daiber, Frieder O. Wolf, Eva Quistorp und Petra Morave –, erhielt keine Bewerberin die erforderliche Mehrheit. Als mögliche Spitzenkandidatin werden die europaerfahrenen Claudia Roth und Brigitte Cramon-Daiber gehandelt. Auch eine Spitzenkandidatin aus dem Osten stünde der grünen Liste gut an. Chancen für den ersten Männerplatz dürfen sich der Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann sowie der Wirtschafts- und Agrarexperte Graefe zu Bahringdorf ausrechnen. Doch über die mit Abstand spannendste Personalie wird im Mittelfeld entschieden. Ab Platz vier geht Danny Cohn-Bendit ins Rennen. „Ein europäischer Bastard“ (Eigenwerbung) im Europaparlament – da werden die Grünen kaum nein sagen wollen. Matthias Geis

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