Bühne Chatroulette: Vom Tode gelangweilt
Ein Künstlerpaar inszeniert einen Selbstmord im Internet-Portal Chatroulette. Ihr Video zeigt: Die Zuschauer reagieren schockierend gelassen – fingierte Suizide sind sie gewohnt.
![](https://taz.de/picture/311356/14/no_fun.jpg)
BERLIN taz | Was macht man als erstes, wenn man einen Selbstmord sieht? Fotografieren! Zumindest bei Chatroulette, einer Internet Seite, die Besucher wahllos zu Videochats zusammenwürfelt. Normalerweise sieht man da schräge Gestalten, seltsame Kostüme und vor allem viele, viele Geschlechtsteile. So richtig schockieren kann erfahrene Chatroulette-Nutzer deshalb fast nichts mehr – eben auch kein Toter, der vor der Kamera mit einem Strick um den Hals von der Decke baumelt.
Die Reaktionen der Online-Zuschauer auf so einen vermeintlichen Selbstmord zeigt nun das Video „No Fun“: Sie reichen von Misstrauen, über Desinteresse, bis hin zu Belustigung und Anfeuerungsrufen. Ein User beschimpft den Erhängten sogar noch und schreibt „Ur a a shit, u have to die“, eine andere packt erstmal ihre Digital-Kamera aus und macht ein Foto vom Bildschirm, man weiß ja schließlich nie, wofür so ein Bild noch gut sein kann.
Mit solch abgebrühten Reaktionen hatten die Macher des Videos scheinbar nicht gerechnet: Eva Mattes, die eine Hälfte des Netz-Künstler Duos 0100101110101101.org sagte, manchmal sei sie schockiert gewesen, was die Chat-Teilnehmer da auf der anderen Seite des Bildschirms machten – und das wolle etwas heißen, weil sie sonst nicht leicht zu beeindrucken sei.
Der Selbstmord und das Video dazu sind eine Online-Performance, die Mattes zusammen mit ihrem Partner Franco Ende April gemacht hat. Nix passiert also, alle gesund und alles nur ein Kunstwerk, was genau die beiden damit aber eigentlich bezwecken wollten, bleibt unklar.
Erstmal aber hat es vor allem dazu geführt, dass in verschiedenen Blogs (mercedes-bunz und spreeblick) darüber diskutiert wird, was man selber wohl tun würde, wenn man bei Chatroulette so einen Selbstmord sehen würde – unwahrscheinlich ist das nämlich ganz und gar nicht.
Denn neben „No Fun“ gibt es bei Youtube dutzende weiterer Videos, die die Reaktionen von Chatroulette-Nutzern auf Erhängte, übel zugerichtete Leichen und Erschießungen vor dem Bildschirm zeigen. Kunst soll das nicht sein, wohl eher lustig, denn meistens versuchen irgendwelche Teenager so die Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms zu erschrecken.
Mittlerweile aber haben die fingierten Selbstmorde in Chatroulette so inflationär zugenommen, dass sich durch Zufall zwei vermeintliche Selbstmörder begegnen, die sich dann gegenseitig erschrecken. Kein Wunder also, dass die meisten Chat-Teilnehmer auf die Installation von Eva und Franco Mattes ziemliche gelassen reagierten – Menschen, die vor der Chatroulette-Kamera von der Decke baumeln, sind sie schon lang gewöhnt.
Es ist klar, dass solche Witzchen in etwas so lustig sind wie im Baggersee den Ertrinkenden zu markieren. Bleibt also die Frage, ob es dann tatsächlich noch ein Selbstmord- Video a la „No Fun“ braucht, Kunstinstallation hin oder her. Die Macher sind in der Kunstwelt keine Unbekannten, ihre Videos über seltsame Performances in Second Life oder die Entführung eines Nike-Logos kann man in Ausstellungen auf der ganzen Welt sehen. Vielleicht wollten sie auch Menschen abseits des Internets vor die Frage stellen, wie sie wohl in so einer Situation reagiert hätten. Vielleicht wollten sie aber auch nur anprangern, wie verroht doch die Jugend heutzutage durch die Medien schon ist.
Dabei darf man nicht vergessen, dass es in der Vergangenheit schon mehrmals zu tatsächlichen Suiziden im Netz gekommen ist, live, vor der Webcam. 2008 nahm in den USA ein 19-Jähriger auf der Plattform Justin.tv vor einer Kamera Pillen, bereits ein Jahr zuvor übertrug ein Brite seinen Suizid im Internet. In beiden Fällen berichteten die Medien danach, die Zuschauer hätten die Selbstmörder nicht ernst genommen oder zumindest viel zu spät reagiert.
Ähnliches könnte nun auch bei Chatroulette passieren, schließlich wissen die meisten Nutzer schon heute nicht mehr, ob ein Selbstmord echt ist. Die meisten werden also auch in Zukunft skeptisch reagieren oder gelangweilt, ist ja wahrscheinlich eh alles nur Spaß - oder eben eine Online-Performance von irgendwelchen Künstlern.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird