Büchnerpreis für Josef Winkler: Mit dem Tonfall des Getriebenen
Abarbeiten am Katholizismus, am übermächtigen Vater, an der Doppelmoral auf dem Lande: Der österreichische Schriftsteller Josef Winkler erhält den Büchnerpreis.
Man muss es als ein Charakteristikum bedeutender Auszeichnungen sehen, dass sie zumeist zu spät kommen, wenn sie denn kommen. Das prägnanteste Beispiel dafür ist der Literaturnobelpreis. Kurz nachdem die Stockholmer Akademie ihre Entscheidung für den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio bekannt gegeben hatte, verschickte der Piper Verlag eine rasch hergestellte Neuauflage von Romanen Le Clézios; Erscheinungsdatum: Sechzigerjahre. Und das ist noch ein harmloses Beispiel. Bei Preisträgern früherer Jahre musste man noch tiefer in Archiven oder der Erinnerung forschen, um an Informationen zu gelangen.
Im Falle des Büchnerpreises, dem, wie es immer wieder heißt, bedeutendsten Literaturpreis im deutschsprachigen Raum, ist die Sachlage ein wenig anders. Als beispielsweise im Jahr 1995 Durs Grünbein als jüngster Preisträger aller Zeiten den mit mittlerweile 40.000 Euro dotierten Preis zugesprochen bekam, war das, im positiven Sinn, eine beinahe schon avantgardistische Entscheidung. Wolfgang Hilbig erreichte die Auszeichnung im Jahr 2002 auf dem ästhetischen Höhepunkt seines Schaffens. Das Gegenbeispiel liefert der Lyriker Oskar Pastior, der Feierstunde und Preisverleihung im Jahr 2006 erst gar nicht mehr erlebte; kurz vorher verstarb er. Und es gibt seriöse Stimmen, die dem Büchnerpreis so lange seine Berechtigung absprechen, bis nicht der wichtigste lebende deutschsprachige Schriftsteller ihn erhalten hat - Peter Kurzeck. Man darf dem zustimmen.
Am Samstag nimmt der Österreicher Josef Winkler in Darmstadt den Büchnerpreis entgegen, und auch hier meldeten sich nach der Bekanntgabe der Entscheidung Kritiker zu Wort, die Winklers ästhetisches Konzept als überkommen und seine große Zeit als vergangen betrachten. Das stimmt einerseits und andererseits auch nicht: Sicher, Winkler steht in einer österreichischen Gesamttradition, im Kontext einer Anti-Heimatliteratur, die sich dennoch geradezu verzweifelt an die Heimat klammert. Man schreibt so nicht mehr, es sei denn, in ironischer Brechung. Doch gibt es hier ein Paradox: Man kann deshalb so nicht mehr schreiben, weil sich zu viele Epigonen an Winkler (oder auch Thomas Bernhard) vergangen haben; weil sich zu viele Autoreneinsteiger und Textausprobierer die Erzählmuster und -motive, die auch Winklers Texten zu Grunde liegen, zu eigen gemacht haben, weil sie vordergründig einfach zu kopieren und in ihrem Inhalt wohlfeil sind. Wer könnte schon etwas einwenden gegen eine Kritik an der katholischen Kirche, an der Doppelmoral auf dem Land?
Was die Texte des 1953 in Kärnten geborenen Josef Winkler, der 1979 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Preis der Verleger gewann und dessen Romantrilogie aus "Menschenkind", "Der Ackermann aus Kärnten" und "Muttersprache" bereits 1982 abgeschlossen war, auszeichnet und abhebt, ist neben ihrer sprachlich-musikalischen Kunstfertigkeit die ihnen innewohnende Mischung aus Verzweiflung und Wut. Es sind Bücher, die geschrieben werden mussten und nur so geschrieben werden konnten. Erst im Repetitiven, in der suchenden Bewegung, findet der Schreibende zu sich, zu seinem Thema, zu seinem Text. Winkler verarbeitet seine biografische Prägung, den Katholizismus, den übermächtigen Vater, in einer gebetsmühlenartigen sprachlichen Häckselmaschine, so lange, bis Literatur daraus geworden ist.
Winkler wuchs als Jüngster von sechs Geschwistern in einer patriarchalisch-konservativen Bauernfamilie auf. In der Begründung der Jury heißt es, er habe "auf die Katastrophen seiner katholischen Dorfkindheit mit Büchern reagiert, deren obsessive Dringlichkeit einzigartig ist". Es ist der Tonfall eines Getriebenen, der bis heute geblieben ist, bis zu seinem 2007 erschienenen Buch "Roppongi", das in Winklers Werk möglicherweise einen End- wie einen Wendepunkt bedeuten könnte, trägt es doch den Untertitel "Requiem für einen Vater" und erzählt davon, wie der Autor in Japan vom Tod seines Vaters erfährt, nicht nach Österreich zurückreist -und dem Vater auf diese Weise einen seiner letzten, in Wut ausgesprochenen Wünsche erfüllt: "Sepp! Was bist du denn für ein Schwein, ein richtiger Sauhund bist du!" Und: "Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst!"
Was also bedeutet der Büchnerpreis für Josef Winkler zu diesem Zeitpunkt? Sagt er etwas aus über den Zustand der Akademie, die ihn verleiht? Eher nicht. Beweist er etwas im Hinblick auf den Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur? Das noch weniger. Gute Literatur, ein wahrer Satz aus der Phrasenkiste, hat kein Verfallsdatum, weil sie sich nicht auf die profanen Erscheinungen der Gegenwart, sondern auf sich dahinter verbergende Wahrheiten bezieht. Das wird gerne vergessen von denjenigen, die wahlweise mehr Relevanz oder gar mehr Aktualität von Prosaautoren fordern. Erstere hat man oder auch nicht; Letztere hat der Literatur noch nie genutzt. Josef Winkler ist also kein aktueller, aber ein relevanter Schriftsteller. Er hätte den Büchnerpreis möglicherweise viel früher bekommen können, dürfen oder sollen. Das ändert nichts daran, dass er ihn nun noch immer verdient hat.
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