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■ Bücher.kleinUnternehmen Sieben

Die Opfer fliehen in den Masken der Täter: Eine merkwürdigere Flucht aus Nazi-Deutschland hat es wohl selten gegeben als die jener Reisegruppe, die am 20. September 1942 in Basel eintraf. Die 14 jüdischen Frauen und Männer entkamen der Deportation, weil Offiziere des Amtes Abwehr/Ausland des Oberkommandos der Wehrmacht sie gegenüber den eigenen Mitarbeitern und gegenüber der Gestapo als deutsche Agenten ausgegeben hatten. Die komplizierte Täuschungsaktion war notwendig, weil SS-Chef Himmler im Oktober 1941 jede Ausreise verboten hatte. Als ein „deutsches Wunder“ erschien einem der Geretteten denn auch seine Flucht.

Was bringt Menschen unter den Bedingungen einer Diktatur dazu, anderen unter Einsatz des eigenen Lebens zu helfen? Der Historiker Winfried Meyer spürt dieser Frage nach in dem Buch „Unternehmen Sieben“, das im Titel den Decknamen der Rettungsaktion trägt. Ihr Initiator war der Jurist Hans von Dohnanyi, der in seinem Amtschef Wilhelm Canaris und seinem Offizierskollegen Hans Oster nicht weniger entschlossene Unterstützer fand. Als Gegner der Nationalsozialisten hatten sie bereits seit 1938 an Umsturzplänen gearbeitet.

Die Lebensgeschichten der Retter, von denen die meisten nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und vor Kriegsende hingerichtet wurden, beschreibt Meyer so anschaulich wie die der Geretteten, deren herausragende Köpfe ursprünglich deutschnational gesinnte jüdische Rechtsanwälte waren.

Die einzelnen Schritte einer streng geheim vorbereiteten Operation sind im Abstand von fast 50 Jahren nur schwer zu rekonstruieren. Der Autor hat in jahrelanger Arbeit wie ein Detektiv Puzzlestücke aus nicht weniger als 55 Archiven zusammengetragen: Prozeßakten wertet er ebenso gewissenhaft aus wie Briefregistraturen, Fernsprechverzeichnisse und Interviews. Das ist eine beachtenswerte historiographische Leistung, doch der Lesbarkeit seiner gut 600 Seiten starken Dissertation ist dies leider nicht bekommen.

Wer sich interessiert für das Institutionsgefüge des „Dritten Reiches“, den ständigen Kampf der Ämter und Parteistellen um Einfluß, das Intrigieren ihrer Führer gegeneinander, findet in dem Buch sorgfältig belegte Beispiele. Aber die spannende Geschichte des „Unternehmens Sieben“ verdient ein Publikum, das nicht nur aus NS-Fachhistorikern besteht. Angesichts der Fülle der von Meyer geschilderten menschlichen Reaktionsweisen wird sich jeder Leser künftig schwertun mit Pauschalurteilen über „die Deutschen“. Das ist kein gering zu schätzender Lerneffekt in einer Zeit, in der viele sich in Fatalismus flüchten. mon

Winfried Meyer: „Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion“. Mit einem Begleitwort von Klaus von Dohnanyi. 634 Seiten mit 163 Abb., Anton Hain Verlag, 64 Mark

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