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■ Bücher.kleinNicht nur Heidegger

Die Debatte über Martin Heideggers Engagement in der NS-Zeit hat die Feuilletons lange beschäftigt. Doch Heidegger wirkte nicht allein. Die Nazifizierung der gesamten Universitätsphilosophie ist bisher kaum systematisch untersucht, geschweige denn öffentlich diskutiert worden. Zwei Neuerscheinungen wirken dem entgegen: George Leamans Taschenbuch „Heidegger im Kontext“ liefert zum ersten Mal einen vollständigen Überblick zum NS-Engagement aller Universitätsprofessoren der Philosophie: Zwei Drittel von ihnen waren Nazis. Leamans Buch zeigt, daß Helmut Schelsky bereits im Juni 1932 der SA beitrat. Arnold Gehlen arbeitete für den Chefideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg. Auch „unpolitische“ Philosophen machten mit, etwa Hans-Georg Gadamer, der 1933 zusammen mit 961 anderen Wissenschaftlern das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ unterschrieb.

Am Beispiel Wiens zeigt ein zweites Buch, „Der geistige Anschluß“, Brüche und Kontinuitäten in der Universitätsphilosophie von den Anfängen des Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Aktuell ist der Fall des Philosophieprofessors Erich Heintel. Wiens Metaphysiker mit brauner Vergangenheit lebt und lehrt noch heute. 1942 schrieb Heintel: „Daß man also z. B. Vererbungslehre als Eugenik usw. in den Dienst menschlicher Daseinsgestaltung gestellt hat, wird und kann... jedermann begrüßen, der an gesunder, sauberer Leiblichkeit und ihrer weitreichenden Bedeutung für alles ,Edle‘ (Gezüchtete) Freude hat.“

Die Herausgeber des „Geistigen Anschluß“ publizieren die Hintergründe zum „Fall Heintel“, unter anderem die inneruniversitären Auseinandersetzungen. Dazu gehört ein Briefwechsel zwischen dem vor den Nazis geflohenen Philosophen Kurt Fischer und dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Heintel. Fischer versucht seinen Institutionskollegen Heintel dazu zu bringen, sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu stellen. Prof. Dr. Erich Heintel weigert sich und bestreitet, Nationalsozialist gewesen zu sein. Der Konflikt hat Heintel offenbar bisher wenig geschadet: Vor einem Jahr wurde in Österreich von Wiener Universitätsprofessoren, unterstützt von der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“, das „Erich-Heintel- Archiv“ gegründet. Zu seinem 80. Geburtstag erschienen gleich vier Bände zu seinen Ehren. Martina Kirfel

George Leaman: „Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen“, Berlin 1993, 161 Seiten, 15,50 DM

Kurt R. Fischer, Franz M. Wimmer (Hg.): „Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien (1930–1950)“, Wien 1993, 296 Seiten

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