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■ BuchtipDeutschsprachige Literaten in Prag

Es ist viel darüber philosophastert worden, warum sich gerade Prag zu einer Insel deutschsprachiger Literaten gemausert hatte. Ob sich so brillant erzählte Geschichten von Gustav Meyring, Franz Werfel oder Paul Leppin erst mit Wissen um die in der Stadt untergehende jüdisch-deutsch- tschechische Dreifaltigkeit verfassen ließen. Mit keinen anderen Erzählungen wird dem Prag-Interessierten der Wertewandel und die ausgestorbene Multikultur der Moldau-Metropole jedoch so deutlich wie mit diesen. Helmut G. Haasis hat in dem Prag-Lesebuch „Die unheimliche Stadt“ eine treffende Auswahl zusammengestellt. Besonders hervorzuheben ist die Umfrage bei ehemaligen Prager Schriftstellern: „Warum haben Sie Prag verlassen?“

„Die gereizte Stimmung“, antwortet ein Anonymus (vermutlich Hermann Ungar), „die leider noch immer nicht nur in politischen, sondern auch in künstlerischen Kreisen in Prag aus nationalen Gehässigkeiten entsteht, ist nicht gerade geeignet, das künstlerische Schaffen zu fördern.“ Weiter werden finanzielle Gründe genannt: Ein deutschsprachiger Schreiberling, der in Mark oder österreichischen Schilling ausbezahlt werde, könne sich „in einem edelvalutarischen Lande, wie es die Tschechoslowakei heute ist“, kaum finanzieren.

Andererseits war es das Dämonische, das stets Zwielichtige und rational nicht Greifbare, das die deutschsprachigen Literaten an der Stadt mit den tausend Türmen, schummerigen Laternen und verwinkelten Straßenzeilen schätzten. Für die touristischen Zeitgeistigen gibt es dieses Flair noch heute. „Kafkaesk“, heißt es im Volksmund. Doch die Menschen mit den leeren Gesichtern, von denen Leppin schreibt, haben die Reisenden selbst aus den Kneipen der Altstadt in die Spelunken der Vorstädte vertrieben. Nur noch dort mag die Leppinsche Romantik „unruhevoll an den Wänden flackern“, also jene, die zu verschämten „Schwärmereien verführt, zu Wollust, Lebensgier und Tränen“.

In Prag werden Reisende heute mit Kafka konditioniert. An jeder Ecke lockt man mit seinem Namen oder dem Konterfei für ein kulturelles Ereignis. Das Prag-Lesebuch läßt auch die anderen Schriftsteller nicht im Schatten des jüdischen Autors stehen. Viele von ihnen entkamen nur knapp den Konzentrationslagern. Paul Kornfeld und Oskar Wiener gelang das nicht.

Leider hat der Herausgeber bei der Auswahl der Texte keine einzige Zeile von Egon Erwin Kisch herausgepickt. Kisch, der „rasende Reporter“, spielte in dem Reigen der deutschsprachigen Autoren immer eine wichtige Rolle.Tomas Niederberghaus

„Die unheimliche Stadt – ein Prag- Lesebuch“. Herausgegeben von Hellmut G. Haasis, München 1992, 371 Seiten, 19,80 DM.

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