piwik no script img

■ BuchtipOlivenkerne

Der Orientalist M. ist ein großer Humanist, ein Prediger für die Emanzipation, ein Völkervereiniger und Kulturvermittler. Zumindest ist er das so lange, wie er mit niemandem unter vier Augen spricht. Dann aber quillt der Mief jahrhundertealter europäischer Falschaussagen über den Orient aus ihm heraus. „Unter uns gesagt“, fangen seine Versuche an, den, der in seine Vieraugenfalle geraten ist, zum Komplizen zu machen. Eine Tirade gegen die Völker des Orients und ihren Hang zum Selbstmord, Fanatismus und Irrationalismus bricht los. Dem folgt ein sorgenvoller Ausbruch um die Kultur der Region, an der er zuvor kein gutes Haar gelassen hat. Ich fragte ihn oft, warum er nicht sein Beschäftigungsfeld wechselt. Er könne sich doch viel schönere Gegenden der Welt aussuchen, wo es weder religiöse Fanatiker noch Unterdrücker gibt. Regionen, wo statt des Irrationalismus der Rationalismus der Ausgewogenheit herrscht. Länder, wo das Leben so geliebt wird, daß ganze Industrien und riesige Armeen von Medizinern und Helfern einschließlich eines Heers von Versicherungen den Tod an sich bekämpfen. Angewidert antwortete er: „Genau das vertreibt mich aus Deutschland!“

Zeitungen, die was auf sich halten, halten sich einen Kolumnisten, bevorzugt Romancier oder Talkmaster, damit er den LeserInnen des Blattes Woche für Woche exklusive Einblicke in die Absurditäten seines Alltags gewähre. Nicht selten bildet sich bald um diese vom journalistischen Trieb zur Objektivität und anderen Lastern befreiten und daher recht widerborstigen, sprich höchst amüsanten Kolumnen eine eigene Fan- und manchmal auch Haßgemeinde mit hohem Leserbrief-Output heraus. Für die Schweizer WoZ spitzte 52 Wochen lang der syrisch-deutsche Erzähler Rafik Schami die Feder. „Olivenkerne“ nannte er seine allwöchentlichen Einmischungen in deutsche und arabische Zustände. Neben dem Orientalisten M. und diversen anderen professoralen Peinlichkeiten begegnen wir so dem Schriftsteller G. W., der 1985 die Ausländer in Deutschland entdeckte, dem Präsidenten B., der nach dem großen Aufstand seiner Bevölkerung eine Kommission zur Aufdeckung von Korruption ins Leben rief, die sogleich wieder von seinem Bruder, dem Geheimdienstchef, verhaftet wurde, oder der Rentnerin M.B., die beinahe das deutsche Fernsehen revolutioniert hätte. Ein Geschenkbüchlein für Fans und Freundinnen. Klaus Farin

Rafik Schami: „Gesammelte Olivenkerne. Aus dem Tagebuch der Fremde“. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1997, 142 Seiten, 20 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen