Buch über linke Mehrheiten: Kabinettstisch und Straße
In ihrem neuen Buch skizziert Linken-Chefin Katja Kipping zwei gefährliche Zukunftsszenarien. Um das zu verhindern, brauche ihre Partei mehr Mut.
Kipping, Vorsitzende der Linkspartei, skizziert darin, warum es eine „sozial-ökonomische Wende“ dringend braucht und wie ein konkretes Programm für eine solche aussehen könnte. Mit ihrem Buch wagt sich Kipping innerhalb ihrer Partei weit vor. Diese diskutierte am vergangenen Wochenende auf einer Strategiedebatte der Linkspartei zunächst einmal ausgiebig, ob und unter welchen Bedingungen sie überhaupt im Bund regieren will.
Kipping sieht die Welt an einem Scheideweg. Ihr zufolge drohen zwei gefährliche Zukunftsszenarien: Auf der einen Seite ein „autoritärer Kapitalismus“, der eine Symbiose aus Nationalismus und einer marktradikalen Wirtschaftspolitik sowie modernen Überwachungstechniken darstellt. Auf der anderen Seite ein „Neoliberalismus mit grünem Anstrich“ – also ein „Weiter so!“ mit zögerlichen ökologischen Reformen.
Beide Szenarien finden laut Kipping ihre Entsprechung in parteipolitischen Konstellationen. Schwarz-Blau/Braun, ein Bündnis aus Konservativen mit der völkischen Rechten, stünde für eine solche autoritäre Ausprägung des Kapitalismus. Prominentes Beispiel dafür ist die vorerst gescheiterte Koalition der konservativen Österreichischen Volkspartei mit der völkisch-rechten Freiheitlichen Partei in Österreich. Aber auch Staatschefs wie Trump, Orbán oder Erdoğan verkörperten diese Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und einer autoritären Regierungsweise.
Der dritte Weg
Das moderierende „Weiter so!“ sieht Kipping wiederum in einem schwarz-grünen Bündnis, wie es sich viele in der Union und bei den Grünen wünschten. Diese Politik würde, so Kipping, die systemischen Ursachen für Klimawandel und soziale Ungleichheit unangetastet lassen. Ebenfalls am Beispiel Österreichs zeigt die Linken-Politikerin auf, wie die Grünen für etwas mehr Klimaschutz die autoritäre Abschottungspolitik und die neoliberale Wirtschaftspolitik ihres Regierungspartners in Kauf genommen haben – und damit hinter ihren Ansprüchen zurückgeblieben sind.
Wie können Linke, SPD und Grüne für eine Regierungsmehrheit ohne die CDU zueinanderfinden? Wie sortiert sich die Bundespolitik nach dem Ende der Ära Merkel neu?
Zu diesen Fragen stellt Linken-Chefin Katja Kipping am 4. März, 19 Uhr, in der taz-Kantine in Berlin (Friedrichstr. 21) ihr neues Buch „Neue linke Mehrheiten – eine Einladung“ vor. Mit ihr diskutieren SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und der Wiener Publizist Robert Misik, ein Kenner der Sozialdemokratie in Europa. Der Eintritt ist frei.
Alternativ zu diesen beiden Szenarien eröffnet Kipping eine dritte Perspektive: Das „progressive Ausstiegs-Szenario aus der gegenwärtigen Krise“ liegt für sie in einer sozial-ökologischen Transformation. Ihre Vorbilder: progressive Regierungen und Politiker*innen wie die Linksregierung in Neuseeland, das Mitte-links-Bündnis in Portugal oder die US-Politstars Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez.
Von Letzteren hat sich Kipping auch deren geschicktes Framing abgeschaut: Sanders und Ocasio-Cortez ist es gelungen, vergleichsweise radikale linke Forderungen in den USA wieder in den Bereich des Sagbaren zu bugsieren. Sie stellen dabei das Verbindende in den Vordergrund und knüpfen an geteilte Werte oder Traditionen an.
Ein Beispiel dafür ist der Green New Deal: Darunter verstehen progressive Demokrat*innen einen sozialökologischen Umbau der Wirtschaft für mehr Klimaschutz durch ein großangelegtes Investitionsprogramm in Infrastruktur und nachhaltige Energieträger – bei gleichzeitigem sozialen Ausgleich.
Das Gemeinsame in den Vordergrund
Vorbild ist in diesem Fall der New Deal des ehemaligen US-Präsidenten Roosevelt. Mit einer Reihe groß angelegter Wirtschafts- und Sozialreformen wurden die von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Vereinigten Staaten in den 1930er Jahren wieder auf die Spur gebracht. War der New Deal eine Antwort auf die damalige Wirtschaftskrise, so soll der Green New Deal nun die drohende Klimakrise verhindern.
Kipping fordert, dass die gesellschaftliche Linke in Deutschland „heraus aus der Defensive“ kommen und „Mut zu großen Erzählungen“ haben müsse. Um die enormen Widerstände zu überwinden, die einer potenziellen Mitte-links-Regierung drohen würden, plädiert sie dafür, dass sich das linke Lager nicht spalten lassen dürfe und vielmehr das Gemeinsame in den Vordergrund stellen müsse.
„Lasst uns nicht immer nur darüber reden, was die Klimaaktivistin, den Kohlekumpel und die Rentnerin trennt. Lasst uns darüber sprechen, was den Facharbeiter, die Feministin und die Forscherin verbindet“, schreibt Kipping. Bei allen Unterschieden progressiver Parteien, Stiftungen, Verbände, Gewerkschaften und Initiativen hätten diese einen gemeinsamen Horizont: „Sie betonen die produktive Kraft einer öffentlichen Infrastruktur, die nicht am kurzfristigen Profit, sondern am gesellschaftlichen Bedarf ausgerichtet ist.“
Die Linken-Vorsitzende fordert eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten, öffentliche Zukunftsinvestitionen und Daseinsvorsorge, wirksamen Klimaschutz sowie die Förderung solidarischer Wirtschaftsmodelle – ganz nach dem Credo „Mehr Demokratie, weniger Markt“. Die Vision einer demokratischen Wirtschaft sei ein Projekt, das Linke, Sozialdemokrat*innen, Ökolog*innen und Sozialliberale vereinen könne, glaubt Kipping.
Kabinettstisch oder Straße?
Doch wie kann eine solche Politik praktisch umgesetzt werden? Kipping ist sich dessen bewusst, dass sich linke Mehrheiten mit massiven Widerständen aus Bürokratie, Wirtschaft sowie anderen Eliten konfrontiert sehen würden. „Selbst wenn neue linke Mehrheiten es an die Regierung schaffen, haben sie noch lange nicht die Macht“, stellt Kipping klar.
Daher plädiert sie für eine neue Art des Regierens, nämlich das „Regieren in Bewegung“. In einer „wirklich großen Koalition“ würden Bewegungen, Initiativen, Verbände, Gewerkschaften und Parteien gleichermaßen eine Rolle spielen.
Als Positivbeispiel zieht die Linke-Politikerin die Berliner Wohnungspolitik heran. Dort sorgten vielfältige Mieter*innenproteste sowie die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ für neue gesellschaftliche Mehrheiten. Erst in diesem politischen Klima und dank des gesellschaftlichen Rückenwinds wurde es möglich, mit dem Mietendeckel einen radikalen Eingriff in den Mietenmarkt im Berliner Senat umzusetzen. Kabinettstisch oder Straße? Das Beispiel Berlin zeige, dass dieser unter Linken viel diskutierte Widerspruch künstlich sei.
Kipping bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Konzept der „Mosaiklinken“ des Instituts Solidarische Moderne, einer parteiübergreifenden Programmwerkstatt, die linke Politikkonzepte entwickelt und deren Vorstand Kipping angehört. Der Gedanke der „Mosaiklinken“ geht davon aus, dass nur die einzelnen Teile der gesellschaftlichen Linken gemeinsam ein ganzes Bild ergeben. Partei und Straße werden hier explizit nicht als Gegensätze, sondern als unterschiedliche Politikmodi verstanden.
Eine Regierung der Hoffnung
So einleuchtend Katja Kippings Ausführungen erscheinen mögen, es gelingt ihr nicht, ausreichend zu erklären, wieso die politische Rechte und nicht die Linke aus den sozialen und ökologischen Krisen der Gegenwart Kapital schlägt. Ihre Partei hat im vergangenen Jahr bei drei Wahlen, in Europa, Sachsen und Brandenburg, massive Verluste erlitten.
Ebenso bleibt sie eine Antwort auf die Frage schuldig, welche Fehler ihre und andere Parteien gemacht haben und warum diesen die Wähler*innen – insbesondere in ihren Stammmilieus – davonlaufen. Für solche Tendenzen ist Kipping als langjährige Parteivorsitzende der Linken zumindest mitverantwortlich und müsste diese schärfer analysieren.
Anstelle eines Anhangs präsentiert Kipping einen Katalog an „Projekten für eine Regierung der Hoffnung“: Umverteilung und soziale Sicherheit, ein soziales Europa mit substanziellen Investitionen ins Öffentliche, höhere Löhne und bezahlbare Mieten, nachhaltige Handelspolitik und massiver Klimaschutz, Transparenz und Mitbestimmung – das Programm klingt verheißungsvoll.
Jüngsten Umfragen zufolge hätten Grüne, SPD und Linke derzeit eine Mehrheit im Bund. Angesichts einer in Bezug auf die Regierungsfrage gespaltenen Linkspartei, einer schrumpfenden SPD und den mit der CDU flirtenden Grünen fehlt für die Umsetzung eines solchen linken Regierungsprogramms jedoch noch eins: der gemeinsame politische Wille.
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