Buch über jüdisch-arabische Geschichte: Der Muslim, der die Jüdin rettete
Ronen Steinkes „Der Muslim und das Mädchen“ erzählt die Geschichte eines ägyptischen Arztes, der Juden im Berlin der Nazizeit zur Seite stand.
„Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit eine ganze Welt gerettet.“ Dieses Zitat aus dem Talmud ist in jede der Medaillen eingraviert, mit der die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem diejenigen Menschen ehrt, die während der Nazi-Verfolgung uneigennützig einen Juden vor dem Tod gerettet haben. Mehr als 25.000 „Gerechte unter den Völkern“ – so der Ehrentitel – sind so inzwischen zusammengekommen. Und auch heute noch werden eine Medaille und eine Urkunde an Retter verliehen, auch wenn diese inzwischen längst verstorben sind.
Ronen Steinke, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat sich auf die Spuren einer dieser Retter begeben. Sein Buch ist zugleich eine Erinnerung daran, dass es keineswegs irgendeiner Art von religiöser oder politischer Tradition entspricht, wenn manche Muslime heute bei antisemitischen Vorfällen auffallen oder gar die Vernichtung des Staates Israel propagieren.
Denn der Protagonist von Steinkes Geschichte ist ein arabischer Muslim aus Ägypten. Der Arzt Dr. Mohammed Helmy, aus einflussreicher und wohlhabender Familie kommend, war zu seiner Ausbildung ins Berlin der 1920er Jahre gekommen und ist später beim Robert-Koch-Krankenhaus in Moabit gelandet. Damals, vor Beginn der NS-Herrschaft, war der Islam in den besseren Berliner Kreisen in Mode. Man traf sich in der Moschee im Stadtteil Wilmersdorf, und gerade Juden und Muslime lernten sich dort näher kennen, ja, es gab gar Übertritte vom Judentum zum Islam.
Steinke lässt uns in diese vergessene Welt der Toleranz eintauchen, erinnert an die Tage, als Else Lasker-Schüler als arabischer Prinz kostümiert über den Kurfürstendamm schritt und viele Berliner von einer romantischen wie naiven Sehnsucht nach orientalischen Sitten gepackt waren.
wird von Ronen Steinke am 30. August um 19 Uhr im Jüdischen Museum Berlin vorgestellt. Der Eintritt ist frei.
Ronen Steinke: „Der Muslim und das Mädchen. Die Geschichte einer Rettung in Berlin“. BerlinVerlag, Berlin 2017, 207 Seiten, 20 Euro.
Den Nationalsozialisten mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie waren solche Vorstellungen selbstverständlich fremd, alles vorgeblich Semitische blieb ihnen suspekt. Und doch konnte der Arzt Mohammed Helmy nach der Machtübernahme zunächst von den Nazis profitieren. Als diese noch 1933 in dem Moabiter Krankenhaus die jüdischen Ärzte entließen und an ihre Stelle manch unterqualifizierte, aber mit dem Parteibuch ausgestattete Mediziner traten, durfte Helmy bleiben und stieg sogar die Karriereleiter hinauf.
Ein Nazi-Profiteur also, der allen Grund dazu gehabt hätte, den neuen Machthabern dankbar zu sein. Dass persönliche Geschichte dennoch manchmal anders verläuft als in vorgezeichneten Bahnen, dass Zivilcourage und Menschlichkeit eine Chance haben, sich in der Rettung von Menschen zu manifestieren, dafür ist Dr. Helmy ein großartiges Beispiel.
Denn der sah, wie die neuen Ärzte pfuschten und so mancher Patient qualvoll verstarb. Er bemerkte, wie sich das neue Personal darum bemühte, ihn, den „Artfremden“, loszuwerden, damit dieser keine „deutschen Frauen“ mehr behandeln könne. Anstatt sich mit den Nazis gegen die Juden zu verbünden, zeigte er Letzteren seine Solidarität – etwa, wenn er sie als Privatpatient außerhalb der Klinik behandelte.
Und diese Hilfe wuchs, wohl auch deshalb, weil die Nazis seinen Vertrag bei der Klinik dann doch auslaufen ließen, ihn schließlich gar monatelang ins Gefängnis warfen mit dem Ziel, den Araber gegen in Ägypten internierte Deutsche auszutauschen.
Bei diesen Visiten lernte er Anna Boros kennen, Spross einer jüdischen Familie, die mit Obstgroßhandel wohlhabend geworden war und nun Stück um Stück Eigentum, Wohnung und Geschäft verlor. Er behandelte ihre Großmutter. Er riet dieser rechtzeitig zum Untertauchen, bevor die großen Deportationen in den Osten begannen. Helmy vollführte in dieser Zeit einen Drahtseilakt, denn zugleich schmeichelt er sich in Bittschreiben bei den Machthabern ein und erfand, um sich ein wenig „arischer“ zu machen, eine deutsche Mutter, von der er abstammen würde.
Tatsächlich aber entzog er Anna Boros den Verfolgungen, und das mit einer Chuzpe, über die man sich auch heute noch wundern kann. Denn mitten in der Hauptstadt des Nazi-Reichs, wo sämtliche Juden längst ordentlich erfasst und registriert waren, wurde aus Anna – angeblich nach Rumänien verreist – die Arzthelferin und Verwandte Nadja, die fortan, mit Kopftuch ausgestattet, freilich ohne die geringsten Arabischkenntnisse, Dr. Helmy in seiner Praxis assistierte. Das war schon mehr als riskant, es war unglaublich.
Und doch ist es dem Ägypter Dr. Mohammed Helmy gelungen, mit dieser Camouflage die Jüdin Anna Boros durch die Jahre der Verfolgung zu retten.
Ronen Steinke ist ein wunderbar lebendig geschriebenes Buch gelungen, das dennoch – auch dank der Endnoten – zeigt, dass diese Geschichte eben nicht der Fantasie entsprungen ist. In wenigen Punkten freilich muss sich der Autor auf die mündliche Weitergabe von Familiengeschichten verlassen, weil seine Protagonisten schon lange verstorben sind und die Archive keine Auskunft geben konnten.
So bleibt manches doch spekulativ: Haben Mohammed Helmy und Anna Boros wirklich den notorischen Antisemiten und Hitler-Freund Amin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem, in seiner Berliner Residenz behandelt?
Dr. Mohammed Helmy blieb nach dem Krieg in West-Berlin und arbeitete als Arzt. Anna Boros wanderte in die USA aus. Vor vier Jahren, lange nach beider Tod und infolge akribischer Recherche, entschied Jad Vaschem, Dr. Helmy den Titel „Gerechter unter den Völkern“ zu verleihen.
Und hier holt der israelisch-arabische Konflikt diese Geschichte von muslimischer Hilfe für eine Jüdin wieder ein. Denn die in Kairo lebenden Verwandten Helmys weigerten sich, diese Ehrung in Jerusalem entgegenzunehmen, weil sie nichts mit Israel zu tun haben wollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader