Buch über die Nürnberger Prozesse: Banalität und Grauen
Hunderte von Schriftstellern und Reporterinnen berichteten über die Nürnberger Prozesse. Uwe Neumahr erzählt das in einem aufregenden Buch.
Der Nationalsozialismus und seine Untaten erwiesen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als ein Konglomerat historisch bisher ungekannter, ja sogar ungeahnter Gräueltaten. Dem in irgendeiner Weise gerecht zu werden, war kaum möglich – gleichwohl versuchten die sich einander mehr und mehr entfremdenden Alliierten dem irgendwie zu entsprechen: mit den bereits 1946 beginnenden Nürnberger Prozessen, bei denen Hitlers Stellvertreter Hermann Göring als Hauptangeklagter schließlich zum Tode verurteilt wurde.
Seit Anbeginn der Prozesse war die internationale Aufmerksamkeit groß, weshalb Hunderte von Journalistinnen und Berichterstattern in jener Zeit in Nürnberg zugegen waren; sehr viele von ihnen – Männer und Frauen getrennt – wurden im Schloss der Familie Faber-Castell untergebracht.
Viele von ihnen waren bereits bekannte Autorinnen und Autoren, teils aus dem alliierten Ausland, teils remigrierte Deutsche wie Erika Mann, Erich Kästner, Wolfgang Hildesheimer, Willy Brandt oder Markus Wolf. Unter den ausländischen KorrespondentInnen fanden sich zudem später berühmt gewordene Persönlichkeiten wie William Shirer, der Romancier John dos Passos, aber auch Frauen wie Martha Gellhorn, Else Triolet oder Rebecca West.
Da es für „normale“ Menschen zunächst kaum erträglich war, täglich von derartigen Gräueltaten zu hören, bauten die Männer und Frauen, die von dem Prozess berichteten, einen psychischen Schutzwall auf – einen Schutzwall, der es ihnen ermöglichte, von all dem Ungeheuerlichen zu berichten und dabei gleichwohl ein soziales Leben mit ihresgleichen zu führen.
Trinkgelage und Liebschaften
Uwe Neumahr: „Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg, 46“. C.H. Beck, München 2023, 303 Seiten, 26 Euro.
Und so entwickelte sich unter den internationalen – auch sowjetischen – Journalistinnen bald ein reges, intensives gesellschaftliches Leben: mit Trinkgelagen, heftigen Auseinandersetzungen, aber auch mit Liebschaften. Bei alledem herrschte zudem eine nicht unerhebliche Spannung zwischen zurückgekehrten Emigranten wie Peter de Mendelssohn sowie „inneren Emigranten“ wie dem keineswegs nur als Kinderbuchautor bekannten Erich Kästner.
Beispielhaft für diese Konstellation steht die Beziehung zwischen Thomas Manns Tochter Erika sowie dem in Deutschland verbliebenen Sonderberichterstatter Wilhelm Emanuel Süskind, der für die Süddeutsche Zeitung schrieb und der vor der NS-Zeit und dem Krieg eng mit Klaus und Erika Mann befreundet war.
Süskind, der sich – anders als die Manns – mit dem NS Regime arrangiert hatte, wurde nämlich Mitherausgeber der nach Kriegsbeginn erscheinenden Krakauer Monatshefte, einer nationalsozialistischen Propagandazeitschrift. Ohne jede Reue wandelte er sich geschickt zu einem Vertreter des „erneuerten Deutschlands“, als dessen Vertreter er sich während der Berichterstattung aus Nürnberg gerierte – was ihm den besonderen Hass der von ihm einstmals verehrten Erika Mann eintrug.
Nicht zuletzt deshalb, weil Erika Mann für Süskind noch in der Weimarer Zeit der Inbegriff der von ihm so genannten „tänzerischen Generation“ war. Trotz aller Versuche Süskinds, ihre ehemalige Freundschaft wiederzubeleben, blieb Erika Mann unversöhnlich.
Den Geist des Schlosses beleidigen
Es waren keinesfalls nur spätere Historiker wie William Shirer, sondern Frauen, die in herausragender Weise von dem Prozessgeschehen berichteten: außer Erika Mann nämlich Janet Flanner, Else Triolet sowie Rebecca West.
Schrieb West doch über den Aufenthaltsort der weiblichen Berichterstatterinnen: „Nichts kann den Geist des Schlosses mehr beleidigt haben als diese Korrespondentinnen. Seine Hallen waren für Frauen entworfen worden, die in ihren Korsagen wie in Gefängnistürmen lebten [….], deren Füße in Schuhe eingesperrt waren, die sie vom schnellen Gang abhielten und verkündeten, dass ihre Trägerinnen sich im Genuss ewiger Muße befanden.“
Und in der Tat waren die Berichterstatterinnen aus Nürnberg genau das Gegenteil von alledem: Das zeigt nicht nur die ruhelose Aktivität der Erika Mann, sondern auch das Leben von Martha Gellhorn, die mit Ernest Hemingway verheiratet war, von Else Triolet, der Gattin des französischen Kommunisten Louis Aragon, sowie von Janet Flanner, die für den New Yorker aus Nürnberg berichtete.
Nicht zu vergessen die – für damalige Zeiten – radikal feministische Britin Rebecca West, die doch tatsächlich in ihren Aufzeichnungen notierte, dass die Angeklagten in Nürnberg dieselbe Hoffnung hegten wie die vielen Liebenden unter den Berichterstatterinnen und Berichterstattern: dass nämlich die Prozesse niemals enden sollten; ging es doch in Wests Fall um eine Affäre mit einem der Nürnberger Richter, mit George Biddle, der im Juli 1946 in seinem Tagebuch notiert hatte: „Morgen Abendessen, werde Rebecca West sehen und mit der Engländerin schlafen, wenn sie nicht zu dick geworden ist.“
Gott, der Mensch und die Welt
Es mutet auf den ersten Blick eigentümlich an, eine derart banale Lebenswelt neben der Dokumentation des schlimmsten welthistorischen Menschheitsverbrechen zur Kenntnis zu nehmen.
Doch ist es genau diese Diskrepanz, die Neumahrs Studie über eine bloße Dokumentation hinaustreibt und zu einem moralischen Lehrstück macht; einem Lehrstück ganz im Sinne des zwischen der Tochter Thomas Manns und dem ihr – auch nach dem Krieg – zugewandten opportunistischen Autor Süskind immer wieder diskutierten Goethe, der in seinen italienischen Epigrammen einmal schrieb: „Ist’s denn so groß, was Gott, der Mensch und die Welt sei – nein – doch keiner will’s hören, drum bleibt es geheim …“
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