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Buch über die Geschichte der USAFür einen neuen Amerikanismus

Jill Lepore ruft einen „guten“ Nationalismus auf, um den bösartigen zu bekämpfen. Dabei verkennt die Historikerin aber entscheidende Punkte.

USA und Freiheit – das war mal fast ein Synonym Foto: dpa

Geschichte wird meist als Nationalhistorie geschrieben, auch wenn die Welt zum digitalen Dorf geworden ist, grenzüberschreitende Abhängigkeiten zunehmen und Nationalstaaten drinnen an Steuerungs- und draußen an Regulierungsvermögen einbüßen. Namentlich Historiker sind dem nationalen Referenzrahmen verhaftet, dem sie wissenschaftsgeschichtlich ihr Ansehen verdanken und dessen Narrativ sie ausstaffiert haben.

An der Nation, die Tony Judt einmal als eine Institution bezeichnet hat, die man erfinden müsste, wenn es sie nicht längst gäbe, hängen viele Identitätskonstrukte, an sie richten sich Ansprüche auf materielle Sicherheit und individuellen Schutz.

Fast tausend Seiten Text, hundert Seiten Anmerkungen und eine ganze Bibliothek selbstständig verarbeiteter Literatur: Das Buch „Diese Wahrheiten“ (aus der Präambel der amerkanischen Verfassung) ist ein ganz großer Wurf der Harvard-Historikerin Jill Lepore, die bestlesbare Geschichte der Vereinigten Staaten in einem Band, mit hochinteressanten Episoden und Seitenlinien, die man auch andernorts (und anders bewertet) lesen konnte, aber selten so elegant und einleuchtend.

Ihre Methode ist, „die Toten selbst erzählen zu lassen“, und so lernt man nicht nur George Washington, sondern auch dessen Sklaven Harry Washington kennen, der von Mount Vernon über Kanada nach Sierra Leone entfloh.

Rückzug in die Echokammmern

Die Bücher

Jill Lepore: „Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“. C. H. Beck, München 2019, 1.120 Seiten, 39,95 Euro

„This America. The Case for the Nation“. W. W. Norton, New York/London 2019, 151 Seiten

Wer die (ungewöhnliche) Nation Amerika verstehen möchte, muss Lepore lesen, die ihr erzählerisches Talent auch als ständige Autorin des New Yorker zur Geltung bringt. Das Buch führt in vier Kapiteln von der Erfindung Amerikas 1492–1799 über die Bildung eines amerikanischen Volkes 1800–1865 und der Festigung des US-Staates 1866–1945 bis hin zur „Maschine“ 1946–2016, womit die politischen Apparate gemeint sind, die per Meinungsumfrage, Parteispenden und Politikberatung den demokratischen Prozess beeinflussen und häufig verfälschen.

Lepore konzentriert sich auf die politische Geschichte und das (nicht zuletzt religiöse) Alltagsleben der Vereinigten Staaten und skizziert eine Medien- und Kommunikationsgeschichte des Landes, auch um zu zeigen, welchen Schaden der heutige Rückzug in Echokammern anrichtet. Politische Ökonomie und Soziologie fand sie weniger interessant, da es ihr um die Verwirklichung republikanischer Gleichheit geht.

Mit Christoph Columbus zu starten, wenn man eine 1776 gegründete Nation beschreibt, treibt manchem Postkolonialen sicher den Zorn ins Gesicht, in der jüngsten Gegenwart mit Trump zu enden, verstößt ebenso gegen den historiografischen Comment. Doch der schmale Folgeband „This America“ begründet diese weitgespannte Mission: Lepore will einen „neuen Amerikanismus“ begründen.

So tituliert sie einen liberalen Nationalismus, der Trumps von vielen Vorläufern übernommene illiberale Variante korrigiert, also nicht auf Rassentrennung beruht, sondern auf der „Nationalisierung“ der universalen Menschenrechte.

Die USA waren zuerst ein Staat, Nation wurden sie über die verfassungspatriotische Inklusion, die bekanntlich stets umkämpft und unvollkommen blieb

Die USA waren zuerst ein Staat, Nation wurden sie über die verfassungspatriotische Inklusion der Ureinwohner, der Afroamerikaner, Katholiken und farbigen Immigranten, die bekanntlich stets umkämpft und unvollkommen blieb. Vieles, was in „diesen Wahrheiten“ niedergelegt ist, wurde in „diesem Amerika“ zum bloßen Fetzen Papier.

Für Lepore bleibt die Nation gleichwohl ein Axiom, als die einzig reale Machtinstanz, bei der ein bedrohtes Individuum seine Rechte einklagen kann. Nichts garantiert allerdings, dass der „gute“ (inklusive, weltoffene, auf Menschenrechte gestützte) Nationalismus am Ende stets über den „bösen“ der xenophoben Exklusion und des Strebens nach weißer Suprematie obsiegt. Lepores Durchgang legt eher das Gegenteil nah. Ihr Held ist Abraham Lincoln, aber die Geschichte ist voller politischer Schurken von Andrew Jackson bis Richard Nixon.

Und natürlich Donald Trump, der Barack Obamas und Elizabeth Warrens Loyalität zur Nation und damit das Rückgrat der liberalen Inklusion in Zweifel zog, nämlich das Territorialrecht aller in den USA geborenen Bürger, das Trump ganzen Kohorten von Einwanderern entziehen möchte.

Der Rest der Welt bleibt auch bei Lepore weitgehend Kulisse. Dabei ist Amerika die exemplarische „transnational nation“, wie es der progressive Intellektuelle Randolph Bourne im Ersten Weltkrieg formuliert hat. Schon damals war die unterstellte Alternativlosigkeit des Nationalen brüchig in einer Weltgesellschaft, in der heute nicht nur erneut ein völkisch-autoritärer Nationalismus um sich greift, sondern planetare Probleme eindeutig die Steuerungsmöglichkeiten einzelner Nationen überschreiten.

Eine gute, eine böse Version

Lepores Absicht, den „guten“ Nationalismus herauszustellen, um den bösartigen niederzuringen, verkennt, dass die grassierende Xenophobie eine Reaktion eben darauf ist, dass Nationalstaaten die gewünschte Sicherheit und Identität heute objektiv nicht mehr verbürgen können.

Als Europäer fühlte man sich von diesem „America first“ mit freundlichem Antlitz befremdet, wäre da nicht die implizite Lehre: Europa könnte ebenso als Neue Nation funktionieren, nicht nach demselben Muster, aber auf analoge Weise, durch Verdichtung der Interaktions- und Kommunikationsräume, die, wie der aus Prag stammende Politologe Karl W. Deutsch schon vor langer Zeit demonstriert hat, ethnische Binnengrenzen durchkreuzen.

Lepore zitiert gern Ernest Renan, den französischen Theoretiker der Nation, aus seiner Sorbonne-Rede 1882: Nationen seien nicht von ewiger Dauer, „sie beginnen und werden irgendwann enden“. Den ersten Halbsatz hat die Historikerin am amerikanischen Sonderfall mustergültig nachvollzogen, den zweiten jedoch kaum in Erwägung gezogen.

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4 Kommentare

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  • Teil II

    Die weltweite Militarisierung der Wirtschaft, zivilen Lebens seit 1933 in Europa, USA mündete über das Ende Zweiten Weltkrieges 1945 friedlos in den Kalten Krieg 1948, Teilung Deutschlands, Europas, der Welt in bipolare Interessensphären Ost und West, Nato, Warschauer Vertragsstaaten, und diktierte allen involvierten Ländern, Bündnissen, selbst jenen, die sich im Block der Neutralen unter Führung Indiens, Jugoslawiens zusammentaten, volkswirtschaftliche Zwänge der Verschuldung für atomare, konventionelle Hochrüstung, die im Auf und Ab, ungeachtet ICAN UNO Atomwaffenverbots 2017, bis heute unvermindert fortbestehen.

    All diese Jahre wurde mit Blick auf die UdSSR, den Kommunismus, real-existierenden Sozialismus, insbesondere durch US Think Tanks, Botschafter*nnen der Atlantik Brücke in Zeiten der Entkolonialisierung das Nachdenken über Gesellschaftsentwürfe nach dem Vorbild der US Verfassung 1776 in Theorie und Praxis, die über das Nationale hinausgingen, das Nationale als Subjekt der Geschichte infrage stellen – s. Leopold Kohrs Buch „The Breakdown of Nation“ 1957 - , systematisch als unpatriotisch denunziert, ideologisch diskreditiert

  • Teil I

    „Geschichte wird meist als Nationalhistorie geschrieben, ,,, ,grenzüberschreitende Abhängigkeiten zunehmen, Nationalstaaten drinnen an Steuerungs- , draußen an Regulierungsvermögen einbüßen“

    Das sehe ich anders, grenzüberschreitende Abhängigkeiten schaffen nach innen neue Optionen auf Steuerung, nach außen ganz neu geartetes Regulierungsvermögen auf Augenhöhe.

    Die USA waren von Anfang an niemals als Staat mit Staatsvolk, sondern nach ihrer Verfassung 1776, Charta allgemeiner Menschenrechte als Gesellschaftsentwurf Europa zum alternativen Bilde mit seiner kleinteiligen Vielvölker Struktur aus Königs- , Fürstentümern, Kaisereichen, die gegeneinander imperiale Kriege führten, gedacht und geschaffen, Menschen in aller Welt insgesamt vor europäisch kolonialen Bestrebungen nach Hegemonie, im Geist der Aufklärung 18. Jahrhunderts Fluchtort zu sein, Halt und Hoffnung zu spenden.

    Die russische Oktoberrevolution 1917 mitten bzw. zum Ende Ersten Weltkrieges nahm formal mit der Gründung autonomer Republiken unter dem Dach der UdSSR, kontrolliert durch die Fuchtel der KPdSU, Anleihen aus dem US Gesellschaftsentwurf 1776, Französischer Revolution 1789. Dass das Projekt der UdSSR auf europäischem Boden 1991 scheiterte, dank Glasnost, Perestroika Michail Gorbatschows, seinen Getreuen auf friedlichem Weg, ist wohl der Sturzgeburt russischer Revolution 1917 unter Bedingungen des Krieges, dem Joch deutschen Friedensdiktats Brest Litowsk Januar 1918 geschuldet, einhergehend mit Kommandowirtschaftsstrukturen, Hungersnöten bis 1922 im von außen finanzierten Bürgerkrieg zu bestehen, der Last erstarkenden Militarismus sowjet. Militärmacht entgegenzusetzen, der nach der Weltfinanzkrise 1929-1932 Fahrt aufnahm, nicht nur in europäischen Ländern, sondern nun voran in den USA mit dem Credit Spending New Deal US Präsidenten Franklin D. Roosevelt ab 1933.

    Teil II folgt

  • Die Rezension zeigt eines deutlich: Selbst die Gegenposition zum plump-weißen Suprematismus Trumps bleibt eine isolationistische und US-zentrierte Sichtweise, die glaubt ein einzelnes kulturell sehr spezifisches Land, dessen puritanistisch-protestantisches Erbe jedem Ankömmling bei der Ankunft eingeimpft wird, spiegele die Welt wider, weil die Vorfahren aller USAmerikaner irgendwo anders herkamen.

    Herr Leggewies Vorschlag, Europa solle doch, immer noch auf die USA schielend, ein europäisches Pendant werden, verkennt gleichfalls, dass wir Europäer in einen Alptraum rasen, wenn wir nicht langsam die Trennung von den USA hinbekommen.

    Ich weiß nicht, ob man sich im Paralleluniversum der hoch bestallten Meinungsingeneure je eine Landkarte angeschaut hat. Unsere Nachbarschaft ist der Balkan, der postsowjetische Raum und der Nahe Osten. Wir werden hier nur bestehen, wenn wir uns mit diesen Nachbarn ernsthaft und auf Augenhöhe befassen - statt uns einzubilden, wir, Westeuropa, sei so toll, dass alle anderen so werden wollen wie wir. Und selbst ein "Wir", das Funktionseliten und Bevölkerungen vereinte, gibt es nicht mehr.

    Vielmehr haben Hybriss und identitäres Denken einer nicht liberalen, sondern libertär-dogmatischen westeuropäischen "Elite" dazu geführt, dass die meinte, das eigene Identitätsmodell geographisch nach 1989 endlos ausdehnen zu können, ohne sich mit den historischen Erfahrungen und realen Bedürfnisse der Dazugekommenen zu befassen. Mit denen müsssen wir - kooperativ, nicht missionarisch - friedlich und gewinnbringend zusammenleben - die USA aber sind weit weg und haben sich, ehrlich gesagt, um unsere Sicht noch nie geschert.

    Deshalb brauchen wir eine wirkliche Grundsatzdebatte. In Wahrheit nämlich waren die kriselnden westlichen Eliten nicht offen, nicht zu kritischem Denken fähig, sondern ideologisch zementiert und haben ausschließlich träge im eigenen Saft geschmort. Wir brauchen einen Neuanfang - in Europa und mit Europas Nachbarschaft.

  • Lese gerade das Gründungskapitel - und bin absolut fasziniert von LEPOREs Stil. Und von den vielen EInblicken in persönliche Schicksale der Zeit.



    Und das bemerke ich schon zwei gravierende Lücken im Besprechungstext:



    Gerade in derGründerzeit waren es die EInzelstaaten, die das Leben der Menschen politisch bestimmten - der Bund war für viele ein fernes Phantom, für die gesamten Südstaaten ein lästiges Übel, das man nur weg. der Unabhängigkeit von GB in Kauf nahm. Und diese Geburtswehen scheinen heute die einzige Chance zu sein, einem extremen Nachkommen von JACKSON zu entgehen, dessen >america firstFührungs