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Buch über den Zustand der US-DemokratieMelodie des Faschismus

Von 9/11 bis zum Sturm auf das Kapitol: Der Pulitzer-Preisträger Evan Osnos versucht die tiefe Zerrissenheit der USA zu verstehen.

Laut Osnos gibt es trotz allem Hoffnung für die USA Foto: Mark Peterson/NYT/Redux/laif

Als Donald Trump im Juni 2015 seine Kandidatur für die US-Präsidentschaft bekannt gab, hielt das Gros der US-Öffentlichkeit den Reality-TV-Star noch für einen Witz. Man machte sich über den Pomp lustig, mit dem er sich in der Öffentlichkeit präsentierte, über seine peinliche Unkenntnis in innen- und außenpolitischen Dingen und über seine mäandernden, ziellosen und oft wirren Reden.

Evan Osnos erhielt in jenem Sommer von seinem Chefredakteur beim Debatten- und Reportagemagazin The New Yorker den Auftrag, sich dieses Trump-Phänomen einmal genauer anzuschauen. Doch er solle sich bitte beeilen, hieß es, das Ganze sei sicher schnell wieder vorbei.

So machte sich Osnos auf zu einer der mittlerweile berüchtigt gewordenen Trump-Kundgebungen. Doch was Osnos dort erlebte, erinnert er sich heute, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Ich war damals das Stinktier auf der Gartenparty. Mir war nicht im Geringsten zum Lachen zumute.“

Osnos war damals gerade aus China zurückgekommen, wo er sechs Jahre lang als Korrespondent des New Yorker über ein autoritäres Regime berichtet hatte. Zudem, sagt er, habe seine Familiengeschichte ihn sicher stärker sensibilisiert als viele andere Amerikaner. Die Familie seines Vaters war vor den Nazis aus Polen geflohen. „Ich erkenne die Melodie des Faschismus, wenn ich sie höre.“

Evan Osnos: „Mein wütendes Land“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 635 Seiten, 32 Euro

Eine Ursachenforschung

Osnos erkannte, dass Trump einen Nerv in Amerika traf und ganz gleich, ob Trump nun gewählt werden würde oder nicht, wollte er herausbekommen, wie das Land an einen Punkt geraten war, an dem sich rechtspopulistische Strömungen derart unverblümt zu erkennen geben. Also schickte er sich an, darüber ein Buch zu schreiben, ein Projekt, das nach 2016, wie Osnos sagt, von der Warnung vor einer möglichen Katastrophe zur Ursachenforschung einer eingetretenen Katastrophe wurde.

Osnos' gerade auf Deutsch erschienenes Buch „Mein wütendes Land“ ist weder das einzige noch das erste Buch, das den Aufstieg des Rechtspopulismus in der westlichen Welt und speziell in den USA zu verstehen versucht. Die Bücher von Timothy Snyder und Yascha Mounk kommen in den Sinn, auf Deutsch ist gerade ein Werk von Jürgen Kaube und André Kieserling zur „gespaltenen Gesellschaft“ erschienen. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Diesen Analysen hat Osnos auf soziologischer Ebene nichts Bahnbrechendes hinzuzufügen. Der Verlust von Stolz und Würde der männlichen, weißen Arbeiterschicht, das Versagen von einst gemeinschafts- und identitätsstiftenden Institutionen, der Aufstieg der sozialen Medien, die neoliberale Fetischisierung des Individualismus und die immer dramatischer anwachsende soziale Ungleichheit – all das ist schon oft als Ursache für den Rechtsruck in unseren Gesellschaften sowie deren Anfälligkeit für rechte Parolen identifiziert worden.

Doch es ist auch überhaupt nicht Osnos’ Ehrgeiz, mit einer profunden neuen Populismus-Theorie aufzuwarten. Osnos ist in erster Linie Journalist und Erzähler. Er will greifbar und persönlich machen, was in Amerika passiert, und das ist ihm meisterhaft gelungen.

Das Buch

Evan Osnos: „Mein wütendes Land“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag,

Berlin 2022, 635 Seiten, 32 Euro

Drei Gemeinden

Osnos schaut sich an, was in drei Gemeinden in den USA in den vergangenen 20 Jahren vor sich gegangen ist. Es sind drei Gemeinden, die er in- und auswendig kennt und mit deren Menschen er sich spürbar verbunden fühlt. Und so kommt in den mehr als 600 Seiten des Buches bei allem Entsetzen über den Rechtsruck des Landes auch immer wieder Osnos’ Empathie für die Menschen und ihre Lebenslagen durch.

So erzählt er herzerweichend von Sydney Muller aus dem Bergarbeiter-Ort Clarksburg in West Virginia, wo Osnos als junger Reporter einst seine Karriere begonnen hat. Von der beruflichen Aussichtslosigkeit in seinem Heimatort in die Armee gedrängt, zeichnet sich Muller in Afghanistan als Kriegsheld aus. Wieder zu Hause, treiben ihn jedoch seine Kriegstraumata in die Drogenabhängigkeit und schließlich ins Gefängnis.

Auf der South Side von Chicago, der am stärksten segregierten Großstadt der USA, können sich die Eltern von Reese Clark das Geld für den Bus nicht mehr leisten, damit Reese eine ethnisch gemischte, bessere Schule besuchen kann als die in seiner Nachbarschaft. Reese geht auf die örtliche Public School, gerät in das Fahrwasser von Gangs und Drogenhandel und landet im Gefängnis. Als er nach Jahren entlassen wird, versucht er sich ein bescheidenes Immobiliengeschäft aufzubauen, doch die Krise von 2008 zerstört alle seine Träume.

In der wohlhabenden Heimatstadt von Osnos, Greenwich im Bundesstaat Connecticut, explodieren die Vermögen mit der Bankenderegulierung und dem Aufkommen von Hedge-Fonds und Private Equity dermaßen, dass der Reichtum obszön wird. Der Arzt Joe Skowron erliegt der Versuchung des schnellen Geldes und wandert wegen Insider-Handels ins Gefängnis. Wieder entlassen und geläutert, wird er zum lautstarken Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit in den USA.

Tag der Gewalt

Alle diese Geschichten, die Osnos parallel zum politischen Zeitgeschehen erzählt, münden in den 6. Januar 2021, an dem sich die aufgestaute amerikanische Wut in einem versuchten Staatsstreich entlädt. Osnos beobachtet die Gewalt in Washington an diesem Tag mit Beklemmung, ist aber nicht schockiert. Nachdem er so lange, so nahe das amerikanische Leben betrachtet hat, konnte er nicht überrascht sein.

Das Amerika, das Osnos beschreibt, ist eines der zerplatzten Träume und der tiefen Frustration von Menschen aus allen Schichten über den Kontrollverlust über ihr Schicksal. Und doch hat Osnos Hoffnung für das zornige, zerrissene Land. Er glaubt noch immer an die Fähigkeit der USA, sich zu erneuern, immer wieder von vorne anzufangen. Auch, wenn er zugibt, dass das nicht mit einer Wahl getan ist und auch nicht mit dem Verschwinden von Donald Trump.

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2 Kommentare

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  • Die linke Theorie, dass die jahrzehtnelang wirkenden Korrosionskräfte des globalen Neoliberalismus fast zwangsläufig rechtspopulistisch-autoritäre Reaktionen zur Folge haben, und zar überall auf der Welt, erfasst sicher viele Aspekte des Phänomens. Nicht minder relevant ist aber die lange amerikanische Geschichte des rassistisch/völkischen und anti-etatistischen Populismus, der sich schon in der amerikanischen Revolution (und selbst der Kolonialzeit) nachweisen lässt. Immer wieder ist ein wesentliches Reservoir des Ressintements der weissen Unterschichten und Kleinbürger - und Mittelschichten das Narrativ einer Verschwörung von Eliten und "Anderen" - von den Paxton Boys im kolonialen Prnnsylvanja, die von der Quäker-Elite "verhätschelte" Indianer massakrierten zu den Know-Nothings der 1850er Jahre, die gegen irische und deutsche Einwanderer zu Felde zogen und dem blanken Hass vieler Populisten der 1890er Jahre sowohl auf urbane Eliten und osteuropäische und italieniche Einwanderer, zwischen denen sie sich zermahlen fühlten. James Baldwin hat zudem in vielen Essays eindringlich die Selbst-Infantilisierung vieler weißer Amerikaner angeprangert, die einer inferiore schwarze Identität als Krücke benutzen, um ihre Verbrechen und ihr Versgane auf "das Andere" zu projezieren. Deshalb entsteht aus den real begründeten Frustrationen des Kapitalismus so oft kein linkes Narrativ, welches die wirklichen Wurzeln der sozialen Ungleichheit angeht, sondern ein ethno-nationalistisches Ersatznarrativ. So wie in Europa der Antijudaismus/Semitismus ein unerschöpfliches Reservoir des Ressentiments bleibt, mit dem begründeter Volkszorn umgelenkt werden kann.

    • @hessebub:

      Die USA lassen sich tatsächlich sehr gut als im Kern rassistisches Bereicherungsprojekt auf Grundlage von kolonialem Landraub und Sklaverei verstehen - mit (gerade auch ökonomischen) Repressionsmechanismen, die bis heute wirksam sind. J. Sakai hat das in seinem Standardwerk Settlers sehr schön aufgeschlüsselt. Absolut lesenswert, wenn man Klassenfrage und Rassismuskritik zusammen denken will, statt das als getrennte Themenkomplexe zu betrachten.

      In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass auch dieser Text wieder mal von einer "weißen, männlichen Arbeiterschicht" spricht, als gäbe es keine prekär beschäftigten Frauen, als sei das Proletariat eine rein weiße Angelegenheit. Hier beginnt bereits die Spaltung einer eigentlich durch ihre Interessen geeinten Arbeiter:innenschaft in verfeindete, disparate Gruppen. Der vom Strukturwandel überrollte Redneck in Appalachia, die hispanische Erntehelferin in Kalifornien, der Schwarze Paketbote in Philadelphia, sie sind keine separaten Klassen, sie haben im Kern alle zwar nicht exakt die gleichen, aber doch konvergierende Anliegen.

      Eine effektive Kritik der Zustände erkennt diese Gemeinsamkeiten, ohne die spezifischen Probleme bspw. von Rassismus betroffener Arbeiter:innen als "Nebenwidersprüche" zu übergehen - Rassismus ist im Kapitalismus keine Nebensache, sondern Stütze bestehender Herrschaftsstrukturen. Wer das eine überwinden will, darf vor dem anderen nicht Halt machen.