Buch über Wein: Geschmacksverbrechen "Kalte Muschi"
Rainer Balcerowiak hat ein demokratisches Weinbuch ohne Führungsanspruch geschrieben – und verschont darin weder Federweißer noch Prosecco.
Keine Frage, es ist genug Wein für alle da. Weltweit wurden im Jahre 2009 annähernd 9,5 Milliarden Hektoliter Wein produziert. Dabei entfielen auf Deutschland nach Angaben von 2006 mit seinen überschaubaren Anbauflächen immerhin 285 Millionen Hektoliter.
Diese Mengen werden mit immer dubioseren Vermarktungsstrategien schmackhaft gemacht, bevor sie geschlotzt, degustiert, verkocht oder einfach nur getrunken werden. Und diese Strategien sind Grund genug für die angenehm polemischen Ausführungen des "demokratischen Weinbuches" von Rainer Balcerowiak.
Die Darstellungen des Journalisten entsprechen durchweg einer subjektiven Kommentartechnik, in der Zitatmontagen aus Werbekampagnen ebenso zum Zuge kommen wie verstiegene Behauptungen seiner arrivierten Standeskollegen. Diese Form der Montage, angereichert durch solides Faktenmaterial, macht die Lektüre des "demokratischen Weinbuches" zu einem vergnüglichen und bildenden Leseereignis für alle an Wein Interessierten.
Balcerowiak möchte beharrliche Mythen zerschlagen und Unterlassungen präsentieren. Bislang wurde etwa sowohl von Historikern als auch von Weinexperten das Thema der Weinproduktion in Nazideutschland geflissentlich übersehen. Kurz angerissen wird in dem kritischen Weinbrevier die Kollaboration von Winzergenossenschaften, privaten Weingutsbesitzern, kirchlichen Gütern und Weinhandel mit dem NS-Terrorregime. Nach der Devise "Deutsche trinkt deutschen Wein" wurden durch "Weinpatenschaften" zwischen Industriestädten und Winzergemeinden der Absatz stabilisiert und durch "Arisierungen" von Kapital und Grundstücken die "wertvollen Glieder des Reichsnährstandes gestärkt".
Beim munteren und heftigen Austeilen verschont Balcerowiak weder gewissenlose Weinmultis, Großabfüller, Marketingstrategen und Lobbyisten noch gutgläubige Konsumenten, die sich zu selten auf ihre eigenen Weinerfahrungen verlassen. Als gezielte Rosstäuscherei mit profitablem Resultat macht er die diversen "Weinsiegel" und "Medaillen" aus, die bei Landesweinverkostungen von Weinbauverbänden gegen entsprechende "Anstellungsgebühren" verteilt werden, und verweist im Kontrast auf selbstbewusste Winzer, die sich diesen kostspieligen Unfug schon seit langem sparen.
Federweißer, Prosecco und Beaujolais Primeur verurteilt Balcerowiak als böse Geschmacksverbrechen. Bei den bisher unter dem Label Prosecco vertriebenen Getränken handele es sich "um jeglichen mit Kohlensäure versetzten Traubenmüll als Inbegriff mediterraner Lebensart". Beim als Federweißer angebotenen "halbvergorenen Most nebst seiner Hefepopulation" betont er die "unweigerlich folgenden Kopfschmerzen und Durchfallattacken". Dem Primeur bescheinigt Balcerowiak zwar, "im viertägigen Schnelldurchgang inklusive Kohlensäurezufuhr und Erhitzung durchgegoren" zu sein, warnt aber zugleich vor ähnlichen gesundheitlichen Folgen wie beim erwähnten deutschen "Frischwein".
Da ist es nur ein kurzer Weg zu den sogenannten weinhaltigen Getränken. Selbst renommierte Weingüter machen diesen Hype mit und produzieren Flüssigkeiten mit skurrilen Bezeichnungen wie "Das süße Leben" oder "Looping". Den schützenfestlichen Vogel schießt in diesem Zusammenhang ein Vertrieb aus dem Ruhrpott ab. Die TSAC OHG aus Essen bietet eine auf Flasche gezogene Mixtur aus Dornfelder und Cola namens "Kalte Muschi" an und punktet auf ihrer Website, "das offizielle Kaltgetränk des FC Sankt Pauli" zu sein. Balcerowiak hat keinen Ratgeber, sondern ein "Plädoyer für eine umfassende Teilhabe aller Menschen am Weingenuss" geschrieben, das ermuntert, einen eigenen und selbstbestimmten Umgang mit dem Kulturgut Wein zu erproben.
Rainer Balcerowiak: "Das demokratische Weinbuch". Mondo Verlag, Heidelberg 2011, 128 Seiten, 14,95 Euro
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