Buch über IS-Kämpfer aus Deutschland: Reise in die Hölle
Ein Vater aus Kassel verlor seine Söhne im Jahr 2014 an den IS. In seinem Buch berichtet er davon, wie er versuchte, sie zurückzuholen.
Es sind etwa 800 Deutsche, die in den vergangenen Jahren in den Dschihad nach Syrien oder in den Irak gezogen sind. Jonas und Lukas sind zwei von ihnen. Die Brüder aus Kassel sind nur wenige Monate vor ihrer Ausreise 2014 konvertiert. Ihrem Vater reißt das den Boden unter den Füßen weg. In seinem Buch „Ich hole euch zurück“ schildert er zusammen mit der Autorin Denise Linke die verzweifelte Suche nach den beiden. Subjektiv und emotional lässt Joachim Gerhard die vergangenen zwei Jahre Revue passieren.
Seine Söhne sind nach Syrien gereist, um dem sogenannten Islamischen Staat zu dienen. Was sie hinterlassen, ist Trauer, Entsetzen und Ratlosigkeit. Und einen Vater, der seitdem an deren Rückkehr festhält. Deshalb ist er bereits unzählige Male in die Türkei an die syrische Grenze geflogen.
Den gefundenen Abschiedsbrief hält Gerhard zunächst für einen schlechten Scherz. Wenig später ist nichts mehr, wie es war. Die Wohnungen der beiden finden die Eltern verlassen vor. Zwei junge gebildete Männer, die in einer westlichen Welt alle Möglichkeiten hatten und nutzten, ließen sich dennoch von der Terrorpropaganda ins Kriegsgebiet verführen.
Gerhard befasst sich mit der von seinem Umfeld am meisten gestellten Frage: Warum? Was bewegt junge Menschen zu einer solchen Ausreise? Die unbekümmerte Kindheit und ständige finanzielle Freiheit seiner Söhne lassen den Wunsch nach festen Strukturen und Regeln heranwachsen, vermutet er. Er führt mit ihnen lange Gespräche.
Verständnis und Offenheit
Doch auf die Fragen seines Ältesten nach dem Sinn des Lebens, fehlen dem Atheisten Antworten. Die finden Jonas und Lukas im Alter von 21 und 17 im Islam. Von ihrem Vater erhalten sie dafür trotz aller Zweifel wie so oft in ihrem Leben Verständnis und Offenheit. „Das stechende Gefühl, meine Kinder an eine fremde Kultur zu verlieren, nagte aber weiter an mir“, heißt es in seinem Buch.
Er begleitet sie in die Moschee. Seine Söhne beten fünfmal täglich. Ihre Kleidung und Wortwahl verändert sich wenige Monate später. Gerhard lässt die Radikalisierung, die Beweggründe seiner Kinder den Leser nur oberflächlich nachspüren – sind sie ihm selbst bis heute schleierhaft. Mit dem IS hätten sie nichts zu tun, das beteuern sie mehrmals. Ihre Eltern glauben ihnen. Weshalb sollten sie zweifeln?
In den ersten Wochen bleibt die Familie weiterhin regelmäßig in Kontakt. Gerhard bekommt Fotos von Grillabenden und syrischen Landschaften geschickt. Doch ein geplanter Besuch scheitert an der syrischen Grenze. Seine Söhne wollen ihn dennoch sehen. Der Versuch scheitert, wie alle weiteren, kläglich.
Gerhard zahlt viel Geld, setzt mal auf die richtigen, oft auf die falschen Leute, um an Informationen zu kommen. Schließlich bekommt er einen anderen Deutschen, dessen Vater Joachim Gerhard begleitet, aus dem Bürgerkriegsgebiet frei.
Einblicke in zermürbende Gedanken
Jonas und Lukas brechen daraufhin den Kontakt ab. Wenig später erhält er ein „Lossagungsvideo“ auf sein Smartphone. „Du bist unser Feind“, sagen sie darin zu ihrem Vater. Es entstand wohl unter Zwang. Daraufhin folgt die Nachricht, dass seine Söhne zu Tode gekommen sind. Gerhard hat berechtigte Zweifel, denn es entstehen Fotoaufnahmen von den beiden, lebend. Er sucht weiter.
Ohne Scham lässt der Autor Einblicke in seine zermürbenden Gedanken zu. Sein Buch handelt vom Versagen, Trauern und Scheitern. Dass er mit dieser Geschichte nicht allein ist, liegt auf der Hand. Seine Söhne sind zwei von Tausenden Europäern, die in den vergangenen Jahren der Terrorvereinigung in das Kriegsland folgten. Es ist das erste Werk eines betroffenen Elternteils, der seinen persönlichen Verlust selbst veröffentlicht. Sein Buch versteht er als Warnung für andere Eltern.
Joachim Gerhard: „Ich hole euch zurück“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 224 Seiten, 14,99 Euro.
Gerhard ist sich seines unkonventionellen Umgangs mit dem Verschwinden seiner Söhne durchaus bewusst. Er trifft andere betroffene Eltern, Journalisten, gibt Interviews. Auch die Drohungen, die der Autor von IS-Anhängern erhält, können ihn nicht stoppen. Im Gegenteil: Sie scheinen ihn zum Weitermachen zu animieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich