Buch über Doping im Radsport: Tolldreister offener Betrug
Jacques Anquetil dopte und gewann fünfmal die Tour de France. In Paul Fournels Buch kommt er dennoch nicht als Betrüger, sondern charmant daher.
Darf man einen Sportler bewundern, der gedopt hat? Paul Fournel, ein preisgekrönter französischer Romancier, hat da gar keine Zweifel. Er schlüpft geschwind in eine Heldengestalt seiner Jugend: Jacques Anquetil. Er breitet das widersprüchliche Innere dieses ersten Fünffach-Gewinners der Tour de France auf eine solch charmante Art und Weise aus, dass man vor lauter Faszination glattweg vergisst, dass ausgerechnet von Sportbetrug die Rede war. Ein Ergebnis großer Erzählkunst.
Jacques Anquetil, geboren 1934, war eine der rätselhaftesten Radsportgrößen. Wie der Italiener Fausto Coppi nutzte er sein Talent, um aus ärmeren Verhältnissen in die Sphären exaltierter Bürgerlichkeit aufzusteigen. Mit seinen Siegesprämien erwarb er sich ein Schloss. Er speiste gern fürstlich; auch vor Radrennen verschlang er mitunter Austern.
Den Genussmenschen Coppi übertraf er noch mit seinen Frauengeschichten. Anquetil spannte etwa seinem Arzt die Ehefrau aus. Er lebte später mit ihr und und der Stieftochter eine Dreierbeziehung. Dem Verhältnis mit Letzterer entsprang ein weiteres Kind, das lange Zeit als Tochter von Anquetils Ehefrau ausgegeben wurde. Sie war es auch, die des Vaters besondere Beziehung zum Doping publik machte: Er sei so von den biochemischen Experimenten begeistert, dass er selbst Goldfische gedopt hätte.
Fournel verheimlicht diesen Aspekt nicht. Im Gegenteil. Er stellt ihn als eine Seinsweise im Radsport heraus. „Doping ist ein Lebensmodus, von dem sich Anquetil nicht lossagen wird, er wird nie darauf verzichten, der Herr des Tages, der Herr der Nacht, der Herr der Intensität, der Herr der Feste zu sein, von Anfang bis Ende“, schreibt er.
Paul Fournel: Anquetil. Mit Leib und Seele. Egoth Verlag Wien, Preis: 19,90 Euro
„Sartre schrieb mit Amphetaminen, Anquetil fuhr damit“
Fournel sieht Anquetil nicht als jemanden, der sich durch Betrug Vorteile verschafft, sondern als einen, der gern Grenzen überschreitet, der seinen Körper zur Bühne eines Leistungs- und Erfolgsspektakels macht. „Sartre schrieb mit Amphetaminen, Anquetil fuhr damit“, zog Fournel in einem Interview einen pikanten Vergleich.
Anquetil gab im Gegensatz zu den verdrucksten Protagonisten späterer Profigenerationen Doping offen zu. „Man muss ein Einfaltspinsel oder ein Scheinheiliger sein, um sich vorzustellen, dass ein Radprofi, der an 235 Tagen im Jahr Rennen fährt, all das ohne Stimulanzien durchstehen kann“, schrieb er 1967 in der L’Equipe. Da war er bereits fünffacher Toursieger.
Fournel steuert in seiner Biografie eine bizarre Anekdote bei, die illustriert, wie weit verbreitet Doping war. Beim Grand Prix de Forli, einem Zeitfahren, verabredeten sich Anquetil und sein ihm ebenbürtiger Konkurrent Ercole Baldini, es aus purer Neugierde mal ohne Doping zu versuchen.
Ergebnis: „Ihr Schnitt liegt anderthalb Kilometer unter dem früherer Jahre, die Strecke kommt ihnen schier endlos vor, sie haben den Eindruck zu bummeln und ein Martyrium zu erleiden.“ Trotzdem wurde der saubere Anquetil Erster und der ebenso saubere Baldini Zweiter. Im Zielbereich allerdings sagten sie sich: „Das werden wir nie wieder machen, nie mehr!“
Schmerz und Schinderei
Radsport ohne Doping war selbst für die Cracks kaum denkbar. Zu den Zeiten Anquetils handelte es sich allerdings um Substanzen, die nicht wie etwa das heute gebräuchliche Epo direkt die Leistung steigern, sondern die vor allem den Schmerz vergessen lassen, den die Schinderei auf dem Rad erzeugt.
Fournel taucht noch in andere Untiefen des Profiradsports und beschreibt zahlreiche Absprachen bei Rennen. Er holt uns ins heroische Zeitalter des Radsports zurück, als Ehrlichkeit nicht einmal beteuert wurde. Für die jüngeren Rennfahrergenerationen wünscht man sich etwas von der Offenheit der Altvordern; so könnte man immerhin über die tolldreistesten Betrugsgeschichten lachen. Wie jetzt eben mit Anquetil.
Anzumerken freilich ist, dass dieser mit Stimulanzien vollgepumpte Held der Landstraße nur 53 Jahre alt wurde. Paul Fournel hat ein großes Buch über Widersprüche und Versuchungen geschrieben – allerdings eines, das man zumindest Jugendlichen nur zusammen mit einem Nada-Begleitheft über die Gefahren von Doping aushändigen möchte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten