■ Ökolumne
: Brutalprodukt Von Thomas Worm

Es gibt ein Gesetz hierzulande, das die Exekutive auf Zerstörung, Krankheit und Tod verpflichtet: das Stabilitätsgesetz vom 8. Juni 1967. Es verlangt ein „angemessenes, stetiges Wirtschaftswachstum“, ohne Rücksicht darauf, daß die Natur zusehends aus der Balance kippt. Rund 600.000.000.000 Mark sind nach einer Studie des Fraunhofer Instituts vom deutschen Sozialprodukt wegzustreichen, wenn allein die Umweltkosten der Energiepolitik miteinbezogen würden – etwa ein Viertel der Wirtschaftsleistung. Nicht die jetzige Konjunkturflaute mit ihren Nullzuwächsen, sondern das über Jahre hinweg verschleierte zweistellige Negativwachstum – der gesetzlich sanktionierte Ökozid – sollte alle das Gruseln lehren.

Was macht das Brutto-Sozialprodukt zum Brutalprodukt? Wenn Steinfraß, verursacht durch sauren Regen, Gebäudereparaturen nötig macht, steigt das Sozialprodukt. Wenn das nach sauberer Luft ringende Baby mit Pseudokrupp im Krankenhaus behandelt wird, steigt das Sozialprodukt. Wenn immer mehr Verbrennungsanlagen immer mehr Sondermüll in immer mehr Abgase umwandeln, steigt das Sozialprodukt.

Die hierbei hinterlassenen Schäden werden als „externe Kosten“ von Betriebsmanagern, Nationalökonomen und Wirtschaftsstatistikern systematisch ausgeblendet. Externe Kosten bilden das verdrängte Unbewußte der Marktwirtschaft. Doch das Verdrängte entwickelt zunehmend zerstörerische Potenzen, denn die traktierte Natur schlägt zurück: Ihr gratis bereitgestellter UV-Filter wird durchlässig, das stabile Erdklima gerät aus den Fugen, mit den brennenden Tropenwäldern gehen Hunderttausende Arten unwiederbringlich in Flammen auf. Und die gängigen Marktpreise „vergessen“, als Signalgeber darauf zu reagieren.

Gewiß, die monetäre Bewertung von Umweltschäden verursacht Schwierigkeiten. Beispiel: Mit welchem Betrag setze ich einen herzschwachen Städter an, der während der höchsten Smogalarmstufe tot zusammenbricht? Doch die Tatsache, daß man beim Korrigieren billionenschwerer Bilanzposten im Statistischen Bundesamt – auch im UN-Auftrag – schon jahrelang herumüberlegt, ohne wenigstens erste Resultate öffentlich vorzustellen, ist mehr als nur ein Armutszeugnis. Das ist gefährliche Verschleppung.

Es muß ab sofort darum gehen, transparent zu machen, wie das Volkseinkommen mehr und mehr auf Kosten menschlicher Gesundheit, intakter Natur und künftiger Lebenschancen erwirtschaftet wird und dadurch schrumpft, statt zu wachsen. Dabei braucht „man nur halbwegs die Größenordnungen in den Griff“ zu bekommen, wie der verstorbene Sozialökonom Karl William Kapp gesagt hat. „Ehrlichere“ Zahlen wären bereits ein Gewinn, „wahre“ Zahlen hingegen erfahren wir am Sankt-Nimmerleins-Tag.

Deshalb folgender Vorschlag, um den buchhalterischen Schneckengang zu beschleunigen: Foto 2

Fünf anerkannte Wissenschaftler sind zu gewinnen, die regelmäßig und publikumswirksam ein ökologisches Wirtschaftsgutachten vorlegen,Foto: taz

und zwar parallel zum alljährlichen Ritual des umweltökonomischen Selbstbetruges der fünf Wirtschaftsweisen der Bundesregierung. Die Abschätzung eines solchen provisorischen „Öko-Sozialprodukts“ könnte zunächst aus Näherungswerten für ausgewählte Bereiche bestehen – wie etwa bei den Öko-Bilanzen deutscher Unternehmen. Wichtig ist ein ausbaufähiger Methodenrahmen, dessen Kriterien durchschaubar sind. An kompetenten Leuten zur schlagkräftigen Besetzung eines solchen Gremiums herrscht kein Mangel. Die wirtschaftsökologischen Fünf könnten ihre „Ergänzungen“ auf Basis von Auftragsstudien formulieren. Finanzieren ließe sich das Projekt durch eine Stiftung, zu der die Umweltorganisationen vom BUND bis Greenpeace, vom Vogelschutzbund bis zum WWF aufgerufen sind. Anschubkosten: eine halbe Million Mark.

Die Zeiten, als das dröge Zählen noch geholfen hat, sind endgültig vorbei. Das mit intelligentem Grünstift korrigierte Sozialprodukt könnte Politiker und Wirtschaftler unter erheblichen Legitimationsdruck setzen und schneller einen Konsens über Wertansätze herbeiführen, die kein „Aufwärts“ vorgaukeln, wenn es tatsächlich steil abwärts geht. Damit wäre wenigstens der Rückwärtsgang eingelegt, der vom Abgrund fortführt.

Volkswirt Thomas Worm ist freier Journalist in Berlin.