Brüssel und der mögliche Brexit: Plan A und Plan B
Die EU-Politiker müssen auf zwei mögliche Szenarios vorbereitet sein. Auch ein Verbleib Großbritanniens birgt Risiken.
Offiziell wollten die EU-Chefs nicht einmal einen „Plan B“ für den Ernstfall entwerfen. Doch hinter den Kulissen wird fieberhaft an einem Notplan gefeilt. Schon am Freitagmorgen treffen sich Juncker, Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz in Brüssel, um den möglichen Schaden zu begrenzen. „Jetzt muss ein Ruck durch Europa gehen“, fordert der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen.
Was aber geschehen sollte, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Während Leinen, der schon im EU-Verfassungskonvent mitgearbeitet hat, und viele andere Abgeordnete im Europaparlament einen neuen Konvent fordern, um die EU wieder flottzumachen, treten die meisten Regierungen auf die Bremse. Beim EU-Gipfel nächsten Dienstag und Mittwoch dürfte es keine weit reichenden Beschlüsse geben.
Bisher zeichnen sich in Brüssel nur defensive Reaktionen ab: Bleiben die Briten dabei, dann will sich die EU an die Umsetzung der Sonderwünsche machen, die Premier David Cameron im Februar ausgehandelt hatte. Kommt der Brexit, ist ein Signal der Stabilität geplant. Hier die beiden Szenarien:
Variante 1 – Der Brexit kommt: Die jahrzehntelange Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung käme jäh zum Stillstand. Dann müsse man den Laden zusammenhalten, sagen EU-Diplomaten in Brüssel. Wichtig sei auch, einen ungeordneten, „wilden“ Austritt Großbritanniens und einen jahrelangen Scheidungskrieg zu vermeiden.
Konkret würden Juncker, Tusk und Schulz ein Bekenntnis zu Europa abgeben und die EU-Staaten zu noch engerer Zusammenarbeit auffordern, damit der Brexit nicht als Spaltpilz wirkt und vielleicht sogar Nachahmer in anderen EU-Staaten findet. Das Austrittsverfahren beginnt alsbald nach Artikel 50 des EU-Vertrags mit einem formellen Antrag. Es endet nach zwei Jahren mit einem Austrittsvertrag. Allerdings steht das bisher nur auf dem Papier, in der Praxis wurde es noch nie erprobt.
Die Briten könnten daher versuchen, auf Zeit zu spielen und ihre eigenen Prioritäten zu verfolgen – etwa beim Stopp der Einwanderung. „Es gilt jedoch das Loyalitätsprinzip, abwarten wäre illoyal“, warnt Leinen. Falls die Briten nach dem Austritt versuchen sollten, Brüssel hinzuhalten, so müsse die EU Sanktionen verhängen. „Man könnte Finanzhilfen und Stimmrechte sperren“, so Leinen. „Raus ist raus“, sagt er – wie zuvor schon Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Der hatte allerdings auch davor gewarnt, die europäische Integration nach einem Austritt der Briten voranzutreiben. Genau das fordern jedoch Föderalisten wie Leinen. Die EU müsse sich nach einem Brexit noch enger zusammenschließen und Prioritäten für die nächsten Jahre festlegen. Ähnlich argumentieren auch Franzosen und Italiener. Wer sich durchsetzt, ist offen.
Variante 2 – Großbritannien bleibt: Nach dem drohenden Grexit im vergangenen Jahr hätte die EU damit einen weiteren, womöglich entscheidenden Härtetest bestanden. Doch auch dieses Ergebnis birgt einige Gefahren. „Die Stagnation könnte weitergehen, zudem könnte es einen Angriff auf den Sozialstaat geben“, fürchtet Jo Leinen. Bei einem Sieg könnte Cameron seine neoliberale EU-Agenda fortsetzen – und versuchen, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer weiter einzuschränken. Dann droht eine Machtprobe mit dem Europaparlament: „Wir wehren uns gegen eine Diskriminierung von EU-Bürgern“, warnt Leinen. Ärger droht aber auch mit Merkel, die Cameron unterstützt und auf ein „Weiter so“ in Brüssel setzt.
„Wenn Großbritannien bleibt, wird der EU-Gipfel salbungsvoll versuchen, Antworten auf die Sorgen der Bürger zu geben“, so Leinen. Neue Initiativen seien dann jedoch nicht zu erwarten. Erst nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland 2017 könnte die EU neue Reformen wagen – das Brexit-Referendum würde als bedauerlicher Betriebsunfall abgehakt und schnell vergessen.
Durch die Brexit-Nacht führt am Donnerstag unser musikalischer Liveticker unter taz.de/brexit.
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