piwik no script img

Brodelnde Geschichte

■ „Sanguis“ und „Flut“: Viel Flüssiges vom Bremer Tanz

Am Anfang war der Sand. Dann kamen Licht und TänzerInnen. Urs Dietrich sprach: Es fließe Blut, und schon wirbelte die Neueinstudierung der Dietrich'schen Choreograhie von 1991 über die Bühne des Schauspielhauses.

„Sanguis“ ist ein ebenso assoziatives wie unverkopftes Puzzle. Irgend eine Leiche liegt immer im Sand, wird gefunden und verwandelt. Die Neubearbeitung arbeitet mit schnellen Bezugswechseln, wer eben noch synchrones Ensembleteil war, findet sich plötzlich auf einsamer Bühne wieder.

Zum Beispiel die beiden Herren, die sich eigentlich nur die Hand geben wollen. Und dann nicht wissen, wohin mit ihren Gliedern und sich letztlich auf den Austausch von Visitenkarten beschränken. Eine klassische Stan-und Olli-Sequenz.

Konkrete Komik stellt Dietrich auch in einer Gliederpuppen-Szene her. Mit saugenden Geräuschen werden isolierte Gelenke nach oben gezogen, die TänzerInnen machen sich gegenseitig zu Marionetten, die regelmäßig – vermittels eines imaginären Scherenschnitts – in sich zusammen sinken.

Dieses Fädengewirr markiert die Mitte von „Sangius“, dem zweiten Stück des vormaligen Textil-Designers. Zusammen mit Katrin Plötzky hat er seine zehn TänzerInnen in schwarze Abendgarderobe vor schwarzem Hintergrund gesteckt, warme Spots verwandeln den Sandin eine Insel im Nowhere .

Was tut ein Trupp halbwegs junger Menschen auf sandigem Untergrund? Sie toben, balgen und freuen sich am aufstiebenden Gekörn. Sie flirten und posieren – abschnittweise bedient Dietrich das Beach-Party-Setting sogar ganz unmittelbar mit ausufernden Rock-n-Roll-Szenen.

Es ist ein zunächst noch fröhlicher Hexenkessel, bis sich die Szene – zunächst unterwandert und dann überflutet von einem Bach'schen Orgelstrom – dramatisch verwandelt. Überaus wirksame Lichteffekte (ein breiter schwarzer Schatten schiebt sich vor die Tanzenden) verstärken diese Stimmung. Analog zur Vielstimmigkeit der Musik rasen die TänzerInnen von allen Seiten auf die Bühne, verknäueln sich in unzähligen kleinen Duetten, die ein brodelndes Ganzes bilden, aus dem heisere, gewalttätige Schreie tönen.

Diese Ensembles bilden die stärksten Szenen des Abends, es sind wild verwickelte Tutti, in denen die TänzerInnen alle Verhaltenheit aufgeben.

Bevor Urs Dietrich tanzen ließ, kam er selbst als Solist auf die Bühne. Und machte einen zweiten Zehn-Jahres-Schritt zurück in die Tanzgeschichte: zu Susanne Linkes „Flut“ von 1981. Der dazugehörige Sound ist ein Mitschnitt von Pablo Casals Orchesterprobe der Fauré-Elegie, die Linke in den 70er-Jahren in die Hände bekam („ich wollte schon damals nicht brav nach Musik tanzen“). Schräpelig tönt die alte Platte aus den Boxen des Schauspielhauses, alle paar Takte klopft der Maestro ab und gibt seine katalanisch-französischen Anweisungen. Casals verlangt offenbar Wuchtigkeit, was auch 30 Jahre später deutliche Wirkung hat: Wenn Urs Dietrich seine wasserblaue Stoffbahn auf die Bühne züngeln lässt, ist das kein lockeres Plätschern, sondern ein bedeutungsschwangerer Akt. Mit stark überdehntem Oberkörper gibt er der Rolle Schübe, die mondhafte Macht der Musik über das wässrige Geschehen spiegelt sich in Dietrichs geradezu höriger Mimik.

Eine ordentliche Flut hat natürlich anzusteigen. Die Bewegung auf der Stoff-Diagonale lädt sich entsprechend auf, bis hin zum wogenden Wellenmeer – dem man freilich den Raum einer größeren Bühne gewünscht hätte.

Dietrich zeigt dazu überraschend theatrale Elemente. Etliche romantizistische Gesten, erwartungsvoll getrippelte Geraden und der schräg nach oben gerichtete Blick geben ihm hin und wieder den Habitus eines Stummfilm-Heroen.

Bei Linke war eine bebende Arabeske noch nie ein Beinbruch, auch Dietrichs vibrierende Standbeine passen in die Choreographie. Der Tänzer lässt sich weit gehend auf Linkes armlastigen Stil ein, was manchmal wie eine unmittelbare Karikatur des Casals'schen Dirigats wirkt.

Das mediale Crossover ist also in allerlei Hinsicht deutbar – vielleicht entsteht ja mal eine Komposition zum Video eines Dietrich'schen Tanztrainings. Bis dahin lohnt der Blick in die Tanzgeschichte. Henning Bleyl

Bis zum 6. Juni

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen