Britische Autorin über August-Krawalle: "Die Jugendlichen haben keine Orte"
Nach den Krawallen wird sich die Spaltung britischer Städte noch verstärken, so die Autorin Anna Minton. Den Ausbruch der Gewalt hält sie auch für ein spätes Resultat der Politik von New Labour.
Ist die Angst in den englischen Städten nach den Krawallen gestiegen?
Ich denke nicht, dass die Angst noch größer geworden ist als sie es schon war. Innerhalb weniger Tage kehrte ja wieder Ruhe ein. Doch für einen Tag herrschte eine ungewöhnliche Atmosphäre und das Gefühl, als ob die Regierung fast die Kontrolle verloren hätte.
Die jüngsten Skandale und Krisen in Großbritannien sind alle mit einer geradezu alarmierenden Fähigkeit der Bürger einhergegangen, sehr schnell wieder zur Alltagsroutine zurückzukehren. So, als ob nichts geschehen wäre. Genauso verhielt es sich auch bei der Spesen- und der Abhöraffäre. Was auch den unter den Machern der öffentlichen Meinung weitverbreiteten Widerwillen spiegelt, grundsätzliche Themen anzusprechen.
In ihrem Buch erwähnen sie die rapide Zunahme so genannter Gated Communities in ganz Großbritannien. Obwohl Umfragen nicht belegen können, dass diese unter der Bevölkerung Popularität genießen. Könnte sich das nun verändern?
Die Geschehnisse werden den Hang zu Exklusion, Segregation und Sicherheit weiter fördern. Was sehr beunruhigend ist, da Sicherheit noch mehr Gewalt erzeugt. Entsprechend sind die USA trotz der Anwendung der Todesstrafe eines der Länder mit der weltweit höchsten Mordrate.
Hat nicht die Tatsache, dass die Bilder der überall im Straßenraum installierten Videokameras sofort für die Strafverfolgung verwendet wurden, eine abschreckende Wirkung, die weitere Tage der Unruhe verhindern konnte?
ist Autorin und Journalistin. In ihrem Buch "Ground Control: Fear and Happinss in the 21st Century City" (Penguin 2009) beleuchtet sie den zunehmenden Sicherheitswahn und die Privatisierung öffentlicher Räume in den britischen Städten. Im Januar 2012 wird es mit einem zusätzlichen Kapitel neu erscheinen.
Ja, Bilder von denjenigen, die sich an den Krawallen beteiligten, wurden weit verbreitet und, so hieß es, dazu verwendet, diese zu überführen. Doch alle Belege zeigen: Weder reduziert Videoüberwachung Kriminalität noch hilft sie der Polizei bei der Jagd nach Kriminellen.
Im gegenwärtigen Klima wird die Rhetorik, dass die Videoüberwachung dazu gedient hat, Plünderer vors Gericht zu bringen, das öffentliche Interesse an ihr stärken, was ärgerlich ist, da wir in Großbritannien schon so viel davon haben. Doch oft bestätigt hier die Forschung die Rhetorik nicht, Deshalb wäre es interessant zu wissen, wie viele Verurteilungen tatsächlich auf dem Material der Videokameras gründen.
In London war nicht das Stadtzentrum Ziel der jugendlichen Randalierer und Plünderer, sondern es waren die Einkaufsstraßen der weniger wohlhabenden Viertel wie Croydon, Hackney und Woolwich. Wie erklären Sie sich dieses räumliche Muster?
London wird oft als Stadt der Dörfer bezeichnet, und die Krawalle haben ein Patchwork von örtlich begrenztem Chaos produziert. Heutzutage ähneln sich die größeren Einkaufsstraßen ziemlich, da sie alle im Griff der selben Einzelhandelsketten sind. Ein Grund, weshalb die Randalierer, die auf Plünderungen aus waren, sich gar nicht genötigt fühlten, längere Fahrtwege zurücklegen zu müssen.
Ein weiterer Faktor ist, dass viele Menschen aus verarmten Stadtvierteln gar nicht weit herumkommen. Das wurde auch bei den Krawallen deutlich. Und es ist auch gut möglich, dass die Randalierer genau an den Orten, die ihnen vertraut sind, Grenzen überschreiten und sich so aufführen wollten, wie sie es eben taten. Das war schlechtes Benehmen im großen Maßstab, vermischt mit jugendlicher Erregung.
Ein schlechtes Benehmen, das sich aber auch gegen kleine, unabhängig geführte Läden richtete.
Ja, das war schon erschütternd. Insbesondere Gangmitglieder legen an ihren Wohnorten ein sehr territorial orientiertes Verhalten an den Tag. Und sie entwickeln ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Quartier – das sich in Feindseligkeit gegenüber anderen Jugendlichen übersetzen lässt, die in ihr Revier eindringen. Daher ist es überraschend, dass sie die Einkaufsstraßen ihrer Gegenden plünderten. Allerdings erstreckt sich diese Ortsbindung nicht auf die lokalen Filialen der Sportbekleidungs- und Elektromärkte.
Ist jedoch erstmal der Funken des Chaos übergesprungen, dann scheinen willkürliche Gewalt und Plünderungen zu demonstrieren, wie schnell solche Zugehörigkeitsgefühle der Zerstörung Platz machen können. Ich denke, das ist auch ein klares Anzeichen dafür, wie weit diese Jugendlichen schon von ihren eigenen Nachbarschaften entfremdet sind.
Wäre es zu kurz gegriffen, den Ausbruch der Unruhen auch in Verbindung mit der andauernden Wohnungskrise in Großbritannien zu bringen, wo viele einkommensschwache Familie in überbelegten Unterkünften leben? Deshalb haben Jugendliche nur auf der Straße Raum für sich selbst.
Jugendliche in benachteiligten Vierteln haben keine Orte die sie aufsuchen können, und sie haben sehr wenig zu tun. Sie kommen in keine Kneipe rein, Jugendclubs sind dünngesät, und diejenigen, die existieren, sind ständig geschlossen. Ihnen gehört nichts, aber für ein oder zwei Nächte hatten sie das Gefühl, die Straße gehöre ihnen. Die Wohnungsüberbelegung könnte einige von ihnen betreffen, aber das ist nicht der Hauptgrund, sondern, dass sie nichts zu tun haben.
In ihrem Buch beziehen Sie sich auf den US-Stadtplaner und Autor Kevin Lynch, der behauptete, dass offene Räume an den Rändern des städtischen Lebens so etwas wie eine Ventilfunktion besitzen, da sie Jugendlichen erlauben, etwas zu riskieren und ein Gefühl der Beherrschung zu spüren. Gibt es nicht einen Mangel an solchen Gebieten in den britischen Städten?
Der Mangel an Freiräumen ist sicherlich Teil des Problems. Aber junge Menschen brauchen auch Aktivitäten und Mentoren. Gegenwärtig wird viel über das "Vermächtnis" von Olympia 2012 in London diskutiert und insbesondere darüber, wie, als ein Resultat der Spiele, junge Menschen dazu veranlasst werden könnten, sich sportlich zu betätigen.
Doch das reale olympische "Vermächtnis" ist auf Immobilienentwicklung konzentriert statt über Jugendclubs massiv Sport zu fördern – was wirklich etwas bewirken könnte. Aber das ist so weit entfernt von der Jugendpolitik dieses Landes, die sich unter den vorangegangenen Regierungen auf Bestrafung und Vollstreckung der Agenda gegen antisoziales Verhalten fokussierte und unter der jetzigen Regierung einfach nahezu alle Jugendeinrichtungen kürzt.
Also tragen auch die Labour-Regierungen eine Mitverantwortung für die Krawalle? Sie kritisieren, dass deren "Respect"-Agenda eine prominente Rolle bei der Stigmatisierung und Kriminalisierung von Jugendlichen aus ärmeren Stadtvierteln gespielt hat. Sind die Ausschreitungen so etwas wie die Rache dafür?
Absolut. So viele der von mir interviewten jungen Leute haben geäußert, dass sie die Polizei wie Dreck behandelt und ihnen keinerlei Respekt entgegenbringt. Die Randale war ein Erguss der Wut darüber. Alle mir bekannten Jugendleiter haben gesagt, dass sie schon seit einigen Jahren damit gerechnet hätten, dass so etwas passiert.
Was verstand New Labour unter dem Begriff "Respect"?
Es handelt sich um einen dieser Orwellschen Begriffe, deren ursprüngliche Bedeutung sich am Ende in ihr Gegenteil verkehrt. Ich denke, beabsichtigt war, dass Jugendliche gegenüber den Älteren mehr Respekt zeigen und ein besseres Verhalten an den Tag legen sollten. Doch praktisch kam es Jugendlichen so vor, als ob mit der Agenda ein absoluter Mangel an Respekt ihnen gegenüber verbunden war. In Gesprächen bezeichneten sie diese oft als "Dis-Respect"-Politik.
Welche Maßnahmen beinhaltete die "Respect"-Agenda?
Letztlich war sie identisch mit dem Schwerpunkt, den die Regierung von Tony Blair auf den Kampf gegen unsoziales Verhalten setzte. Juristisch begab man sich auf schwammiges Terrain, da die Agenda nicht auf tatsächlich kriminelles Verhalten abzielte, sondern auf solches, das "Belästigung, Beängstigung und Bedrängnis" verursacht – also geringfügigere Formen von Regellosigkeit. Und obwohl unsoziales Verhalten nicht gesetzwidrig war, erfüllte, wer sich Anordnungen gegen unsoziales Verhalten widersetzte, den Tatbestand einer strafbaren Handlung und konnte dafür ins Gefängnis kommen.
Eine Zunahme von polizeilichen Kontrollen und Durchsuchungen, das so genannte Stop and Search, und Platzverweise, um Ansammlungen junger Leute auseinanderzutreiben, gehörten ebenfalls zu dem Maßnahmenpaket. Inspiriert wurde es durch die "Null-Toleranz"-Politik nach US-amerikanischem Muster. Diese wiederum fußte auf der "Broken-Windows"-Theorie, wonach schon kleinste Störungen wie etwa eingeworfene Fensterscheiben in einer Gegend eine Spirale des Niedergangs und der Gewalt in Gang setzen könnten.
Labour unter Blair glaubte, dass der rapide Anstieg der Kriminalitätsfurcht in Großbritannien genau diesem Typus der geringfügigen Regellosigkeit geschuldet war, und die "Respect"-Agenda wurde geschaffen, um diese Furcht anzugehen. Blairs Nachfolger Gordon Brown und auch die jetzige konservativ-liberale Koalition haben viele der Maßnahmen wieder abgeschafft. Aber ausgerechnet "Stop and Search", das die Jugendlichen besonders verärgert, wird weiter ausgiebig angewendet. Der Hass auf die Polizei, dadurch zweifellos befeuert, ist definitiv einer der Schlüsselfaktoren hinter den Krawallen.
Kürzlich verwarf Tony Blair Premier Camerons Behauptung eines generellen "moralischen Verfalls". Stattdessen machte er eine "Gruppe entfremdeter, desillusionierter Jugendlicher, die sich außerhalb des sozialen Mainstreams befinden" verantwortlich, die in jeder Industrienation zu finden sei. Das klang, als würde er ein "böses Anderes" konstruieren, das eine Spezialbehandlung benötige.
Interessant, dass man in Deutschland darauf hinweist. Kein einziger britischer Kommentator teilt diese Auffassung. Ich fand Blairs Äußerungen abstoßend, dabei doch erhellend. Gott sei Dank sind Blair und die "Respect"-Agenda Geschichte.
New Labour war autoritär und häufig antidemokratisch. Und in diesem speziellen Fall, in dem Blair etwas konstruierte, was geradezu auf eine neuen Ethnizität hinauslief, war die Entwicklung meiner Meinung nach wirklich sehr beunruhigend und rief die schlimmsten historischen Ereignisse in Erinnerung.
Aber setzen die Konservativen trotz ihrer inklusiver klingenden Sprache nicht doch die New Labour-Politik fort: mit Schnellgerichten, die harte Strafen gegen Plünderer fällen und mit dem Vorhaben, Gerichtsurteile per TV zu übertragen?
All das steht ziemlich im Einklang mit dem Vorgehen New Labours gegen unsoziales Verhalten. Ich hoffe, das war nur eine reflexhafte Reaktion, eine panische Antwort von Seiten der Regierung. Und dass wir zukünftig ein maßvolleres Handeln sehen werden, beruhend auf gründliche Analysen dessen, was geschehen ist. Aber, meine Zuversicht ist dahingehend nicht besonders groß.
In Ihrem Buch stellen sie den urbanen Verhältnissen in Großbritannien einen progressiveren, kontinentaleuropäischen Umgang mit öffentlichen Räumen und den Aspekten von Sicherheit und Kriminalitätsvorbeugung entgegen. Haben Sie da nicht ein zu rosiges Bild gezeichnet, in dem Sie zum Beispiel das Problem der französischen Banlieus komplett ausblenden?
Eine berechtigte Kritik. Das Buch hätte sich gar nicht mit all den sozialen Problemen, die in Europa virulent sind, befassen können. Aber eine Erwähnung der Banlieus wäre sicherlich gut gewesen. Worauf ich hinzuweisen versuchte, war, dass die Städte auf dem Kontinent oft spezifische Schritte unternommen haben, mit Hilfe des Planungssystems und Gesetzen, um sicherzustellen, dass ihre Innenstädte lebendige, aufregende Orte bleiben. Im Gegensatz zu Großbritannien, das die planerische Gesetzgebung in vielen Bereichen demontiert und den großen Handelskonzernen erlaubt hat, die Städte zu übernehmen.
Erst am Dienstag ist im Osten Londons die größte Shopping Mall Europas eröffnet worden – nicht weit entfernt von den Schauplätzen der Krawalle. Ein zukünftiges Ziel für Plünderungen?
Zu behaupten, dass diese neue Shopping Mall ein potenzielles Ziel für Plünderer sei, finde ich eine Vereinfachung. Relevanter ist, dass sie ein Juwel in der Krone eines privatisierten, hoch gesicherten Entwicklungsmodells darstellt, bei dem Konsum über alles geht. Das Ziel heisst, den maximalen Profit aus einem Ort zu ziehen, anstatt sich um die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu sorgen.
Das ist die Architektur eines extremen Kapitalismus, der eine noch stärker gespaltene Stadt erschafft. Was die Medienberichterstattung nämlich konsequent ausblendet: Gleich gegenüber der glitzernden Shopping Mall befindet sich ein heruntergekommenes Einkaufszentrum aus den 70er Jahren – die einzige Versorgungsmöglichkeit, die sich die Bewohner der Gegend überhaupt leisten können.
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