: Brisanz und Witz
■ Schalck und Wolf werden einige Mythen der alten Bundesrepublik zerstören
Brisanz und Witz Schalck und Wolf werden einige Mythen der alten Bundesrepublik zerstören
Wolf sitzt in Untersuchungshaft, Schalck- Golodkowski vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages. Anders als die korrupt-verbohrten Greise Harry Tisch oder Erich Mielke, haben sich hier zwei Männer zu verantworten, die sich verteidigen können und werden. Wolf und Schalck kommen nicht in Sack und Asche, sie stehen zu ihrer Geschichte. Sie sind gewiefte Taktiker — und: Sie haben etwas zu erzählen. Die beiden sind für diejenigen, die in aller Selbstgerechtigkeit mit Fingern auf sie zeigen, keine kalkulierbaren Gegner. Sie stehen dafür, daß die letzten 40 Jahre deutscher Geschichte und Geschichten am Ende nicht einfach als die guten westdeutschen und die bösen ostdeutschen rückstandslos entsorgt werden können. Darin liegen die Brisanz, aber auch der Witz der laufenden und bevorstehenden öffentlichen Verhandlungen.
Es gilt also genau zuzuhören, gespannte Neugierde zu entwickeln. In einem Untersuchungsausschuß, in einem Gerichtsverfahren geht es zunächst nicht um Verurteilung, sondern um Wahrheit — und die ist unteilbar. Wenn sie ernsthaft versucht werden sollte, dann ist diese Wahrheitsfindung langwierig und schmerzhaft. In den letzten Tagen plauderte Alexander Schalck-Golodkowski freimütig über Franz-Josef Strauß ebenso wie über seine sozialdemokratischen Freunde und Kontaktleute. Gestern erzählte er, wie das Bundeskanzleramt ihn im September 1989 zu möglichen Stasi- Kontakten de Maizières befragen ließ... Was wird Schalck noch alles erzählen können, was wird Markus Wolf zu berichten haben? Wie war das mit dem deutsch-südafrikanischen U-Boot-Geschäft, wußten die Spitzenverfolger in der alten Bundesrepublik wirklich nichts über die in der DDR untergetauchten RAFler?
Von den Bundesanwälten und -richtern, von den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses wird ein gehöriges Maß an Souveränität verlangt. Und die Gerichte müssen erst noch zeigen, daß sie wirklich die von Politik und Exekutive unabhängige Dritte Gewalt sind. Sie müssen bereit sein, die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte öffentlich zur Diskussion zu stellen — mit den Mythen der DDR werden notwendigerweise auch einige Mythen der alten Bundesrepublik untergehen müssen. Götz Aly
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen