berliner szenen : Brieftaubenflug
So viel ist klar: Sie ist ein Charaktertier – ruhig, bescheiden, einsam und entschlossen. Morgens um halb acht nimmt sie eine kleine Weizenmahlzeit, einen Schluck Wasser dazu, der Rest des Tages ist Betrachtung, Ruhe und Entspannung. Vor einer Woche ist sie mir zugeflogen. Eine Brieftaube, weiß und stolz und ohne Brief. Nur mit einem rosa Ring am Bein. Ein Telefonat mit dem Verein der Taubenfreunde informierte mich darüber, dass das keine Besonderheit sei. Manche Brieftaube entspanne sich vor allzu großen Aufträgen einfach gerne mal ein wenig auf fremden Balkons. Ein Schälchen Weizenkeime und ein Schälchen Wasser solle man bereitstellen und die Taube sei zufrieden. Und tatsächlich. Sie fühlt sich wohl. Mal fliegt sie am Morgen kurz davon, kommt aber nach wenigen Stunden zurück. Und wenn sie bis acht Uhr nicht weggeflogen ist, so erklärte die Dame von den Taubenfreunden, dann fliegt sie an dem Tag nicht mehr. Na ja. Inzwischen scheint sie sich allerdings so wohl zu fühlen, dass man fürchten muss, dass sie darüber vielleicht ihren großen Auftrag vergisst und bleibt. Einfach bleibt. Und keine Post mehr fliegt. Wer also vor etwa einer Woche eine Brieftaube mit einem großen Auftrag in die Welt geschickt hat, um irgendwo eine Post abzuholen, der könnte doch mal vorbeikommen und seinen wankelmütigen Briefzusteller an seinen Job erinnern. Das wäre nett. vw
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