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■ Briefe eines Eingeschlossenen – Vierter BriefHerr Tod, Ihr Erscheinen würde mit meinen Terminen kollidieren

Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt fest im Keller seines Hauses, umgeben von teurem Wein, Marmelade und anderem Eingemachten. Nur seine Briefe dringen nach draußen ...

Sehr geehrter Herr Tod,

das Interesse, das Sie mir entgegenbringen, schmeichelt mir. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir noch ein wenig Aufschub zu gewähren. Ich habe noch die eine oder andere Sache zu erledigen, weshalb mir Ihr angekündigter Besuch derzeit etwas ungelegen erscheint.

Ich habe viel Verständnis dafür, daß Sie sich vermutlich tagtäglich mit Gesuchen wie dem meinen auseinandersetzen müssen. Arme Sünder, verzweifelte Seelen, die Sie um eine Gnadenfrist anflehen. In meinem Fall ist die Sache indes etwas anders gelagert. Ich stehe Ihrer Person nicht gänzlich ablehnend gegenüber und hoffe, daß Sie mein Geständnis, daß ich sogar gelegentlich eine gewisse Sympathie für Sie empfunden habe, nicht in Verlegenheit bringt.

Daß ich keine Angst vor Ihnen habe, können Sie mir glauben oder auch nicht; es ändert jedenfalls nichts an der Tatsache, daß Ihr Erscheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf unangenehme Weise mit meinen eigenen Terminen kollidieren würde.

Ich muß nämlich zuerst aus diesem Keller herausgelangen und mein Leben neu ordnen. Einfach abzureisen und einen solchen Schlamassel zurückzulassen, das wäre nicht nur im höchsten Maße unhöflich, sondern würde auch vermutlich meinen himmlischen Kontostand auf unverhältnismäßige Weise zu meinen Ungunsten beeinflussen. Daß ich mir erst jetzt um diesen Kontostand Gedanken mache, mag Ihnen ebenfalls typisch erscheinen; ich weiß jedoch, daß es damit zusammenhängt, daß mein Kontoauszugdrucker lange Zeit außer Betrieb war. Nach dessen Reparatur mußte ich mit Entsetzen feststellen, daß ich mich weit in den roten Zahlen befinde. Das ist für einen Geschäftsmann, wie ich es bin, ein untragbarer Zustand.

Wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich Ihnen sagen, daß ich noch Frauen zu lieben, Kinder zu zeugen und Bücher zu schreiben hätte. Keines dieser großen, zeitaufwendigen Projekte steht für mich an. Ich brauche lediglich etwas Zeit, um persönliche Beziehungen zu klären.

Alles begann mit einem hellen Licht, das Chaos der Sinne, ein Schrei, Berühren und berührt werden. Dann etwas, das man Bewußtwerdung nennt. Und Gewöhnung. Gewöhnung.

Als ich klein war, war ich sehr stolz auf meinen Vater. Er war Autorität, Unnahbarkeit, Korrektheit. Er war ein gerader, gefaßter Mann. Würdevoll. Das ist das Wort. Er war würdevoll. Er hat nie in der Nase gepopelt, selbst wenn er sich unbeobachtet wähnte. Glaube nur, was du siehst, hat er mir immer gesagt. Als ich in der Pubertät begann, einige bisher als selbstverständlich hingenommene Dinge anzuzweifeln, befragte ich ihn über seinen Glauben; denn wir gingen jeden Sonntag in die mir verhaßte Kirche.

Ich will dir mal sagen, was ich glaube, sagte er und fuhr fort: Ich glaube, was ich sehe. Und einen Gott kann ich nirgends sehen. Du etwa? Ich schüttelte den Kopf. Und wenn wir sterben, sind wir tot. Nichts. Aus. Wir verrotten. Das ist mein Glauben. Warum gehst du jeden Sonntag in die Kirche? fragte ich ihn. Er sagte nichts darauf, sondern sah mich nur mit einem Blick an, in dem sich Spott und Ergebenheit mit einem Verschwörungsangebot mischten. Ich nahm sein Angebot an.

Einige Jahre später fuhr ich mit dem Zug. Mein Verstand quoll über von ungeordneten, fordernden Gedanken. Ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, hatte mir auf unmißverständliche Weise mitgeteilt, daß sie keinen Wert darauf legte, mich näher kennenzulernen.

Vor meinem Fenster zog flaches Land vorbei und hoher Himmel mit weißen, zerrissenen Wolken. Da war ein Ziehen in meiner Brust und ein Prickeln in meiner Kehle, wie ich es nur aus meiner Kindheit kannte. Das ist deine Seele, sagte eine Stimme in meinem Kopf, die ich nicht kannte. Nein, widersprach ich, ich habe keine Seele. In diesem Moment wich das Ziehen einem stechenden Schmerz, ganz kurz. Dann war Ruhe und Frieden und Leere. Nur das leise Gefühl eines schlechten Gewissens blieb, zu leise, um für bedeutsam gehalten zu werden.

Dieses Gefühl blieb mein ständiger Begleiter. Es verschwand nur im Schlaf und in Augenblicken, in denen alles verschwand. Sie, sehr geehrter Herr Tod, werden mir dieses Gefühl abnehmen. Aber im Moment ist es mir zu kostbar, als daß ich es freiwillig hergeben würde.

Mit freundlichen Grüßen

Dietmar Heiligenberg

Tim Ingold

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