■ Brief an die Frau Ministerin: Bildung ist ein Muß
„Sehr geehrte Frau Ministerin, sie sind für Ihre Freiheitsliebe bekannt. Eine Begeisterung, die ich mit Ihnen teile. Aber ist es nicht genau dieser liberale Glaube, der es uns schwermacht, wenn wir von der Schulpflicht reden? Müßte die Bildung nicht einfach ein Angebot mehr auf dem Markt der demokratischen Möglichkeiten sein, wo die Eltern frei auswählen, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken und zu welcher, oder ob sie ihre Kinder zu Hause behalten, um sie selbst zu erziehen? (...)
Selbstverständlich bin ich – wie auch Sie – davon überzeugt, daß die Demokratie die Institutionalisierung der Freiheit der in ihr lebenden Menschen ist. (...) Aber, geschätzte Frau Ministerin, die Demokratie besteht nicht nur aus dem Respekt gegenüber den gleichen Rechten für alle Bürger. Denn die Bürger sind kein Naturprodukt, das spontan entsteht. Die Demokratie muß auch für die Bildung des Bürgers sorgen, auf dessen Wille sich ihre Legitimität beruft. Das heißt, die Demokratie muß jedem potentiellen Bürger beibringen, tatsächlich Bürger zu sein. Deshalb ist in den demokratischen Ländern die Bildung keine Wahlmöglichkeit, sondern ein Muß. Das demokratische System hat die Pflicht, sich um die Ausbildung seiner Neuzugänge zu kümmern, um so den Fortbestand seiner Freiheiten zu garantieren – sozusagen aus einem konservativen Instinkt heraus. (...)
Selbstverständlich muß die vom Staat angebotene Ausbildung nicht immer die beste sein. Angesichts des Massenzulaufs und der Mißstände im öffentlichen Schulwesen sind private Zentren, bei denen sich der Staat bis auf eine Qualitätskontrolle vollständig heraushält, durchaus wünschenswert. Vielleicht sind sogar revolutionäre Ansätze wie der von Hans Magnus Enzensberger denkbar. Er schlug Gruppen von Eltern aus unterschiedlichen Berufen und Wissensbereichen vor, die ihren Kindern reihum bei sich zu Hause aufnehmen, um ihnen die entsprechende Lektion beizubringen. Je mehr Flexibilität und je weniger Bürokratie bei der Zusammenarbeit zwischen Dozenten der einzelnen Schulen und dem Ministerium (...), um so besser.
Aber eines ist klar: Die Ausbildung darf nicht ein Produkt mehr sein, das der Markt bietet. Wenn dem so wäre, würde das nur zu den alten Strukturen führen: die Reichen hätten hervorragende Schulen, mit den besten Lehrern und den besten Unterrichtsmitteln – ausgezeichnete Gebäude gleich um die Ecke im Stadtteil. Die Ärmeren dagegen hätten nur das Recht auf ärmliche Schulen. Das wären nämlich die einzigen, die sich in den einfachen Stadtteilen niederlassen würden, mit resignierten, gescheiterten Lehrern. (...) Solche Ungerechtigkeiten können wir nicht hinnehmen.“ Fernando Savater
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