Brexit-Demos in Großbritannien: Mayday, Mayday
Stoppt den Brexit, fordern die einen. Stoppt den Verrat am Brexit, fordern die anderen. Für beide ist Theresa May an allem schuld.
Farages Brexit-Kampagne „Leave Means Leave“ hat zu einem 14-tägigen „Austrittsmarsch“ gerufen, der in Sunderland in Nordostengland begann und am kommenden Freitag in London enden soll. Heute ist Tag Acht. „Wenn sie uns übergehen, werden wir marschieren, denn wir werden unabhängig sein“, begrüßt der ehemalige UKIP-Chef die versammelten.
Während der Marsch durch England zieht, hat Premierministerin Theresa May bei der EU erfolgreich die Verschiebung des Brexit beantragt, und aus dem „Austrittsmarsch“ für den Brexit wurde ein „Verratsmarsch“ gegen die Verschiebung. „Ich finde das Wort Verrat moderat“, erläutert Farage gegenüber der taz. „Theresa May hat seit 2016 108 mal wiederholt, dass wir am 29. März die EU verlassen.“ Und sowohl Konservative als auch Labour hätten bei den Wahlen 2017 versprochen, „das Referendumsergebnis zu respektieren.“
Helen Roberts, 49, ist extra mit ihrem 9-jährigen Sohn aus dem malerischen Peak-District-Städtchen mit dem normannischen Namen Chapel-en-le-Frith gekommen. „Ich fühle mich um meine Stimme betrogen,“ erklärt sie. Der ehemalige Bergarbeiter Andrew Smith, aus Nottingham und seine Frau Ann, beide 59, betonen, dass es bereits ein Referendum gegeben hätte, ein weiteres sei nicht nötig.
So wie sie denken in dieser Gegend viele. Im nahen Bezirk Mansfield stimmten 2016 70,9 Prozent der Wähler*innen für den EU-Austritt. Der Marsch ist klein – nur etwa 200 Personen – aber viele Autofahrer hupen den Marschierenden solidarisch entgegen.
Britannien ohne Groß
Als die Wandergesellschaft beim Café eines Golfklubs Rast macht, erzählt Chris Needham, 60, der hier zufällig mit seinem Hund spazieren geht, dass er zwar Farage nicht mag, den Brexit aber schon. Bis zur Pensionierung war Needham Gewerkschaftsfunktionär. Die Arbeiter hier seien für den Brexit, sagt er. „Die EU war in der Grundidee nicht schlecht, auch zur Friedensschaffung, aber zu viele Länder zahlen nicht in die gemeinsame Kasse.“ Aber er stehe andererseits entschieden gegen Fremdenfeindlichkeit. „Viele Einheimische sind einfach fauler als Migranten, die von 3000 Meilen entfernten Orten anreisen um hier zu arbeiten, und sie würden garantiert nicht für die niedrigen Löhne arbeiten.“
Nur in einer Nebenbemerkung erwähnt Needham dann etwas, das zunächst zusammenhanglos erscheint. „Ich kann nicht mal meine Fahne hier aufhängen.“ Er meint die englische Fahne, die außerhalb von Fußballspielen und Staatsakten in England dem rechten Rand vorbehalten ist.
Mit solchen Bemerkungen deutet Needham auf etwas, was auch andere als Ursache des Brexit identifiziert haben: das fehlende Selbstbewusstsein Englands, symbolisiert dadurch, dass England das einige Land des Vereinigten Königreichs ohne eigenes Parlament ist – anders als Wales, Schottland und Nordirland. Die 69-jährige Großmutter June aus Mansfield, die ihren Nachnamen nicht nennen will und ihr Leben lang in Billigjobs arbeitete, bringt es auf den Punkt: Ihr fehlt das Groß in Großbritannien. „Wir haben Industrie und Rang verloren. Deshalb wählte die Mehrheit ‚Out‘. Wir sollten schon längst raus aus der EU sein.“
200 Kilometer weiter südlich marschieren nicht 200 Demonstranten, sondern Hunderttausende. Eine Million Menschen reklamiert die Kampagne Peoples Vote, die ein zweites Referendum für den Ausstieg aus dem Brexit fordert, für ihren Großaufmarsch, der sich am Samstag kilometerweit durch die Straßen Londons zieht, vom Hyde Park bis zum Platz vor dem Parlamentsgebäude. Sie wollen nicht raus aus der EU. Sie fühlen sich als Teil davon und wollen nicht, dass man ihnen das nimmt.
Es ist ein Karneval, mit selbstgemachten Schildern, Kostümen und Europafahnen, familienfreundlich mit vielen Kindern. Die meisten Demonstranten kommen nicht einmal in die Nähe des Parlamentsgebäudes. Vor der Bühne ist die Menge sogar so eng, dass es zu Reibereien kommt, wenn Leute rein oder raus wollen. Dennoch bleibt es friedlich. Vor Downing Street werden pausenlos die Dauerparolen gerufen, von „Bollocks to Brexit“ zu „Theresa May Must Go“.
Tessa Robinson, und Lottie Norton, beide 24 und aus Oxford, fühlen sich um ihre Zukunft betrogen, „weil Menschen für den Scheiß-Brexit gelogen haben“. Louis Mason, 17 und Oscar Bissett, 16 beide aus Colchester östlich von London, wollen ein zweites Referendum, denn „als junge Leute wollen wir nicht 50 Jahre warten müssen, bis es dem Land nach diesem Schock in anderer Form wieder besser geht“. Die 61jährige Dozentin Marvie Chambers aus Wolverhampton, die mit einem selbstgemalten Plakat „Der britische Überlegenheitskomplex brachte uns in diese Krise“ demonstriert, sagt, das Vereiteln des Brexit sei nur der Anfang eines Umdenkens, das auch andere Länder in Europa erreichen müsste.
„Schauen Sie aus ihrem Fenster: hier sind wir, das Volk!“ ruft, an die Adresse von Theresa May gerichtet, Tom Watson, der stellvertretende Labour-Chef. Tatsächlich ist diese Kundgebung, was die Redner angeht, breiter aufgestellt als frühere. Es sind jetzt nicht mehr nur Liberale, schottische Nationalisten, Londons Bürgermeister Sadiq Khan und ein paar Abtrünnige der großen Parteien. Auch im Mainstream von Labour und Konservativen organisieren sich jetzt die EU-Freunde.
Tom Watson gründete nach dem Abgang mehrerer Labourabgeordnete eine neue Gruppe innerhalb der Fraktion namens Future Britain, als direkter Gegenspieler des Corbyn-Flügels. Neben Watson bemühen sich auch die konservativen Abgeordneten Dominic Grieve und Phillip Lee um ein paar Worte. Auffällig ist allerdings das Fehlen walisischer und nordirischer Politiker*Innen auf der Tribüne. Aus Wales spricht nur die Studentenvertreterin Gwyneth Sweatman, aus Nordirland der 16-jährige Schüler Pearse Smith.
Wut auf May
Die Spaltung im Land spricht die Labour-Abgeordnete Jess Phillips an. Ihre Entscheidung für ein zweites Referendum sei keine leichte gewesen, da ihre Wahlkreis in Birmingham 2016 für den Brexit gestimmt hatte, sagt sie. Doch sie vertraue ihrer Wählergemeinde, mit der sie ständig im Kontakt stehe, mehr als Theresa May. „Wenn May von der Anerkennung der britischen Öffentlichkeit spricht, mag sie von einen imaginären Freund sprechen, nicht von wahren Menschen.“
Die vielen Reden haben das Auffordernde gemeinsam, und einen Grad von Ungewissheit und des Wünschens. Man will sich nicht unterkriegen lassen, man verlangt das Recht auf Mitsprache. Im Gegensatz zu den Leuten des Leave-Marsches, die auf ihr bestehendes Recht pochen, ausgedrückt durch das erste Referendum von 2016. Allen gemeinsam scheint nur die Wut auf May zu sein, dieses Debakel kreiert zu haben.
Farages Urteil zum People's Vote-Marsch fällt kurz und knapp aus. „Unser Marsch ist symbolisch, die in London sind nicht die wahre Mehrheit,“ sagt er. Dabei macht er keinen Hehl daraus, dass er mit seiner neuen „Brexit Party“ für eine etwaige Europawahl bereitstehe. Und bei einer Veranstaltung in den vergangenen Woche bestätigten auch die Abgeordneten der „Independent Group“, die abtrünnige Brexit-Gegner von Labour und Tories vereint, dass sie bereit seien für die Europawahl. Die Politik überlegt noch, aber auf der Straße hat die nächste Etappe des britschen Europastreits längst begonnen.
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