Bremer Speicherbühne: Ein bisschen Heimat in der Todeszone
Die Speicherbühne erinnert mit Alina Bronskys Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ an drei Jahrzehnte Tschernobyl
Nachdem die Bewohner des Dorfs jahrelang vergeblich ihren Frieden außerhalb Tschernowos gesucht haben, kehren einige von ihnen in die hoch verstrahlte Todeszone zurück. Dort fährt kein Bus mehr und es gibt keinen Strom. Nur ab und zu kommen Forscher in Strahlenschutzanzügen vorbei, um die Netze der hochaktiven Spinnen in den verlassenen Häusern zu untersuchen. „Wir leben hier wie in der Steinzeit“, beklagt der alte Jegor. Dennoch bleiben sie. Weil man hier seine Ruhe hat.
Endlich frei
Aus dem Roman liest Regisseurin Astrid Müller mit klangvoller Stimme Baba Dunjas Briefe an Ihre Tochter und ihre Enkelin in Deutschland vor. Den Rest spielen die rund dreizehn DarstellerInnen auf einer detailliert eingerichteten Bühne.
Großmutter Dunja, die Hauptfigur, ist eine stramme Ukrainerin, die ihr Leben lang unter einem strengen Mann leidet und ihre Kinder in Tschernowo großzieht, bis am 26. April 1986 die Brennstäbe im Reaktor schmelzen und eine der größten Katastrophen der Sowjetunion auslösen. Alt kehrt Baba Dunja zurück, zieht im Garten ihr eigenes Gemüse und kocht damit Rezepte aus alten Sowjetzeitungen nach. Sie ist endlich frei.
Die Freiheit hat ihren Preis: Gesunde Kinder werden in Tschernowo nicht mehr geboren. Familien sind fort, aus Angst vor Krebs, Missbildungen und Fehlgeburten. Statt neuer Hoffnung bestimmt der Tod das Stück. Erdbeeren und Wild schmecken zwar, sind den Bewohnern Tschernowos aber nicht geheuer. Und sie sind krank: In einer Szene lässt Astrid Müller die DarstellerInnen unter den kleinen Lichtspots ächzen und stöhnen: Baba Dunja kämpft mit ihrem toten Mann um den Platz auf der Pritsche.
Wie in „Dogville“
Die Häuser sind zwar nicht mit Kreide auf den Boden gezeichnet, aber dennoch genauso offen und minimal wie in Lars von Triers Filmepos „Dogville“. Braunes Laub säumt die kleinen Privaträume der BewohnerInnen Tschernowos, die in nächster Nähe zum explodierten Atomkraftwerk Tschernobyl ihren Lebensabend verbringen. So schläft Marja in einem pompösen Federbett, der alte Jegor sitzt vor seiner unberührten Schreibmaschine und hinten wacht über allem Baba Dunja in ihrer Datscha-artigen Kochnische.
Handlung entsteht, als ein gesundes Kind ins Dorf gebracht wird. Selbst Baba Dunja sagt, dass ihr Idyll kein Ort für gesundes Leben ist und wickelt das Kind in Alufolie ein. Dennoch sind das Kind und der Mord an seinem Vater ein Segen für das todgeweihte Dorf. Sie schweißen die einzelgängerischen BewohnerInnen zusammen.
In einer starken Gemeinschaftsszene begräbt das Dorf gemeinsam die verwesende Leiche. In dieser Szene blühen die DarstellerInnen endlich auf und es wird auch für den Zuschauer die Spielbegeisterung des Ensembles spürbar.
Das bleibt aber leider eine von wenigen Ausnahmen in rund zweieinhalb Stunden, die sich zwischendurch noch länger anfühlen. Immerhin: Das Unbehagen eines Lebens in der Todeszone erfasst auch den Zuschauer im Laufe des Abends, nachdem zu Beginn noch ein Selfies schießender Touristenzug für Stimmung sorgte. Am Ende ist nur noch Beklemmung zu spüren.
Gutherzig, aber flach
Wenig überzeugend ist leider auch gerade die Hauptfigur Baba Dunja, die von Oberschullehrerin Heidrun Felske gespielt wird: stets resolut und gutherzig – aber eben doch flach. Regisseurin und Dramaturgin Müller berichtet, dass selbst ihr Ensemble am Ende der neun Probemonate ziemlich genervt von dem Roman-Charakter des sowjetischen Märtyrer-Muttchens war. Und das, obwohl Baba Dunja im Roman widersprüchlich ist und sich wiederholt rassistisch äußert.
Warum dann aber gerade diese umstrittenen Passagen streichen? Weil sich Astrid Müller davon keinen Mehrwert für das Publikum verspricht und sie die Schattenseiten der Figur woanders sieht: in ihrem enormen Egoismus nämlich. „Sie opfert förmlich ihre Familie für ein unbeschwertes Leben in Tschernowo“, sagt Müller.
Einfache Antworten gibt die Inszenierung jedenfalls nicht: „Was meinst du Baba Dunja, werden hier jemals wieder Menschen glücklich leben?“, fragt Jegor die Dorfchefin unsicher. „Niemals“, will sie wohl sagen, doch dann dreht sie sich weg: „Du weißt doch gar nicht, wie es hier früher war.“
Insgesamt engagiert sich das Ensemble spürbar für die heute noch aktuelle Frage nach Atomenergie. Sie haben sich im Zuge der Produktion gar mit einer Zeitzeugin gesprochen, die kurz nach dem Unglück die kontaminierte Zone verließ. „Auf das russische Gemüse zum Borschtsch haben wir dann auch lieber verzichtet“, sagt die Regisseurin mit Blick auf das landestypische Premierenessen.
Wieder am 2. April, 20 Uhr, Speicherbühne, Am Speicher XI 4.1., Überseestadt, Bremen
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