: Bremens Kritzelkrebs
■ Neues über Konrad Weichberger, den ersten hiesigen Modernen
Jan Osmers, Mitherausgeber der Bremer Literaturzeitschrift „Stint“, hat in diesem Oktober eine kleine Studienreise nach Weimar ins „Goethe- und Schiller-Archiv“ gemacht. Seit drei Jahren nämlich ist er dem einstmals in Bremen berüchtigten Schriftsteller und Lehrer Konrad Weichberger (1877-1948) auf der Spur, für eine 12-bändige Werkausgabe, von der bisher sechs im Stint-Verlag erschienen sind.
Die Spurensuche ist kein leichtes Unternehmen, denn Weichberger, den seine Familie den „Kritzelkrebs“ nannte, hat seine wortspielerischen Gedichte, bissigen Theaterkritiken und gedankenhüpfenden Prosastücke in über einem Dutzend verschiedener Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Nebenher gründete er die hübsch gesetzte Literaturzeitschrift „Die Welle“, von deren 31 Ausgaben immer noch einige verschollen sind. 1934 schließlich zog er, nach schrecklichen Auseinandersetzungen mit seiner Familie, allein in seine Geburtstadt Berlin und verschwand schließlich in Weimar, wo er, wie es jetzt scheint, elendig zugrunde gegangen ist.
Weichberger lebte seit 1930 von einer kleinen Lehrerpension, nachdem er „wegen Geisteskrankheit“ in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war. Er hatte mit seinen Schülern wochenlang Puppenspiele und lange Theaterstücke einstudiert, sehr anspruchsvolle englische Literatur gelesen und Abenteuerwandertage veranstaltet, bei denen alle in Scheunen übernachteten. Eine ungewöhnliche Unterrichtspraxis in den 20er Jahren, die Weichberger mit dem hartnäckigsten Protest von Eltern und Kollegen zu bezahlen hatte.
Bis in die 30er Jahre hatte Jan Osmers bisher den Lebenslauf des Konrad Weichberger zurückverfolgen können, den einige Bremer Zeitgenossen für einen bewunderungswürdigen Reformpädagogen und geistreichen Schriftsteller hielten, die Mehrzahl aber für einen zu Recht zeitweilig entmündigten Querulanten.
Aus den Weimarer Funden ergibt sich, daß dem armen Weichberger die kleine Pension noch einmal gekürzt wurde, nachdem er in
Weichberger (r.) nebst Weib und Sohn
Berlin in die KPD eingetreten war. Nichtsdestotrotz beantragten seine Frau und Sohn Wolfgang, mit dem er in glücklicheren Jahren gemeinsam Gedichte veröffentlicht hatte, erneut seine Entmündigung, offenbar in der Hoffnung, an diese Pension zu kommen. Briefwechsel und psychiatrisches Gutachten hat Jan Osmers in Weimar gefunden. Auch den Beleg, daß die Entmündigung 1935 wieder aufgehoben wurde.
In Berlin und später in Weimar hatte Weichberger Anschluß an Künstlerkreise gefunden. Er setzte seine unkonventionelle Übersetzungsarbeit fort, beflügelt durch eine revolutionäre und von Fachleuten nur ansatzweise gebilligte Theorie über verschollene Sprachen der alten Griechen. Und er stieg groß ein in eine Art vergleichende Märchenforschung, bei der er Märchen aus über 500 gesammelten Bänden auf die Art ihrer wörtlichen Rede hin untersuchte. Veröffentlicht ist davon allerdings nichts, und sein Antrag, ein „Institut für Märchenforschung“ einzurichten, wurde in Bausch und Bogen abgelehnt.
Nach dem 2. Weltkrieg, Weimar gehörte nunmehr zur sowjetischen Besatzungszone, wurde seine Pension gestrichen, und Frau und Sohn dachten nicht daran, ihm zu einer Zuzugsgenehmigung nach Bremen zu verhelfen. Völlig verarmt starb Weichberger 1948.
Aus dem Gedächtnis der BremerInnen war er verschwunden, bis Jan Osmers mit seiner Forschungsarbeit begann. Inzwischen verkaufen sich die ersten sechs sehr preiswerten Bände (14 bis 16 Mark) auch überregional. Radio Bremen sendete 1991 eine biographische Hörspielcollage. Und Jan Osmers wird seine Lesungsreihe fortsetzen in Weimar, Jena und in Paris, wo noch eine Tochter Weichbergers lebt. Cornelia Kurth
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