Brechts Grab: Dem Geist des Dichters auf der Spur
Millionen Touristen standen schon dran, Millionen Berliner noch nie. Eine der standhaften Ignorantinnen gibt nach. Für die taz kehrt sie auf den Friedhof zurück, auf dem sie einst eine gespenstische Begegnung hatte.
So richtig viel konnte ich noch nie mit Brecht anfangen. Im Deutschunterricht in der Oberstufe meldete ich mich für das "Buddenbrocks"-Referat und ließ die "Mutter Courage" meiner Freundin Dagmar. Später fühlte ich mich regelrecht von Brecht verfolgt, wenn ich in meinem Auslandsjahr in Honduras regelmäßig "Ebertolt Ebrecht? Muy bueno!" zu hören bekam, sobald ich erzählte, dass ich aus Deutschland komme (zumindest von linksintellektuellen Studenten). Die einfacheren Leute reagierten mit "Ebeckenbauer? Muy bueno!") Jahre später las ich eine Biografie über Brechts Frau Helene Weigel - was mir den großen Autor nicht gerade sympathisch machte.
Das schreibt berlin.de: "Jede Großstadt hat ihren Friedhof für die berühmten Töchter und Söhne. In Berlin lesen sich die Grabsteine und Gedenktafeln im Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße 126 wie das ,Who is Who' der geistigen Elite Deutschlands."
Das schreibt der "Lonely Planet": "Brecht lebte in einem Haus unmittelbar nördlich von hier, angeblich um seinen Vorbildern, den Philosophen Hegel und Fichte (ebenfalls hier begraben), ganz nahe zu sein."
Öffnungszeiten: täglich 8 bis 20 Uhr, im Winter bis 16 Uhr.
Nächsten Dienstag: Juliane Schumacher über die Gedächtniskirche.
Trotzdem muss ich ehrlicherweise sagen: Es ist gar nicht so, dass ich noch nie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gewesen wäre. Nur bis zum Grab von Bertolt Brecht habe ich es nicht geschafft. Das war letztes Jahr im November. Ich lag in der Charité, hatte eine Nebenhöhlen-OP hinter mir. Am Tag danach war ich früh wach und schlich aus dem Zimmer. Ich spazierte durch die menschenleeren Straßen von Mitte. Es war Sonntag, noch fast dunkel und nebelig-feucht. Der Friedhof roch angenehm nach Erde und nassen Büschen. Auf der Informationstafel suchte ich das Grab von Bertolt Brecht. Schräg hinten links. Trotzdem verlief ich mich in den Gängen zwischen den Grabsteinen. Ich blieb mal hier stehen, entdeckte mal dort Gräber von bekannten Menschen wie Günter Gaus oder Johannes Rau. Auch der Friedhof war menschenleer.
Ich ging zurück zum Hauptweg und versuchte mich zu orientieren. Plötzlich hörte ich Stimmen. Eine japanische Reisegruppe bog um die Ecke. "Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo das Grab von Brecht liegt?", versuchte ich es. Aber die Japaner blieben nur stehen und starrten mich an. Da merkte ich, dass mein Nasenverband längst durchnässt war. Blut suppte mir die Lippen herunter. Mir fiel ein, was der Arzt gesagt hatte: Erschrecken Sie nicht, wenn Sie morgen in den Spiegel schauen und die ganze Partie um die Augen herum blauschwarz ist. Ich murmelte noch, "Oh, sorry" und "I am not a ghost, hihi". Dann stolperte ich zurück ins Krankenhaus.
Jetzt also eine neuer Anlauf. Ich radle die Chausseestraße entlang und biege nach rechts ab. Sofort empfangen mich Schatten und Ruhe - welch ein Kontrast zu der lauten, heißen Straße! Welche Oase mitten im turbulenten Mitte! Es ist Mittag und erstaunlich wenig los auf dem Promi-Friedhof. Wieder ein kurzer Stop an der Infotafel: Der Friedhof wurde 1762 außerhalb der Stadt vor dem Oranienburger Tor gebaut, erfahre ich. Er gehörte zur Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Kirchengemeinde. "Zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten aus dem geistigen, kulturellen und politischen Leben Berlins fanden dort ihre letzte Ruhestätte."
Diesmal mache ich mich zielstrebig auf den Weg zu Brecht. Ich schiebe mein Fahrrad unter hohen Laubbäumen entlang. Wieder treffe ich bekannte Namen: Schwartzkopf, Schadow, Borsig, weiter hinten Hufeland, Beuth - die kennt man schon wegen der nach ihnen benannten Straßen. Aber natürlich wusste ich nicht, dass Christoph Wilhelm Hufeland am 25. August 1836 gestorben ist und Arzt war.
Rechterhand plötzlich ein ganzes Ensemble: Vier Treppen nach oben, ein schwarzer, reichlich verzierter gusseiserner Zaun. "Dr. Max Siegfried Borchardt, Ministerpräsident und Geheimer Justizrath", lese ich an einem Monument, das am hinteren Rand dieses Familiengrabs steht. Schick, schick. Hufeland dagegen verblasst an der gegenüber liegenden Friedhofsmauer. Ihm ist ein schlichtes schwarzes Steinkreuz gewidmet, das sich wenig vom Grau der Mauersteine abhebt.
Und Brecht? Wo liegt der denn nun? Ich glaube es kaum: Ich stehe die ganz Zeit direkt neben seiner letzten Ruhestätte und habe es noch gar nicht bemerkt. Zwei schlichte Steine, vom Aussehen her Bachkiesel, von der Größe her Kopfkissen, stehen am hinteren Ende eines vielleicht zwei mal sechs Meter großen Grabes. Einer steht aufrecht - das ist der von Bertolt Brecht. Der andere liegt waagerecht, gleichsam in die Mauerecke gekuschelt - dort ruht Helene Weigel.
Das Grab ist von dunkelgrünem Bodendecker bewachsen, in der Mitte ein Kreis von rosa Blümchen, wohl fleißige Lieschen - "auch Impatiens walleriana genannt", wie mich eine Endfünfzigerin mit schwarzen Leinenhosen, bequemen Sandalen und Berlin-Führer belehrt, die plötzlich neben mir steht. Alles in allem ist das Grab sympathisch unscheinbar - eigentlich so, wie man es von einem aufrechten Kommunisten erwartet. Ganz anders als dieser Geheime Justizrath von gegenüber mit seinem pompösen Zaun. Die Besucherin will jetzt von mir wissen, ob Brecht jüdische Vorfahren hatte. Hatte er nicht.
Ich bleibe noch eine Weile stehen und genieße die Ruhe. Wenige Touristen, fast alles Spanier, schlendern vorbei, eine Frau fragt mich nach dem Grab von "Ehegel" - el filosofo! - das einen Gang weiter liegen muss. Versuche, mir vorzustellen, wie sich der Friedhof früher in all die maroden Altbauten in Mitte eingefügt haben muss, damals, als Brecht am Berliner Ensemble wirkte, damals, als es in der neu entstehenden DDR offenbar auch mal so etwas wie eine Aufbruchstimmung gegeben hat. Ob Brecht heute auch in einer dieser schicken Loftwohnungen hier in der Umgebung leben würde?
Bestimmt. Im nächsten Urlaub werde ich noch einmal Brecht lesen, nehme ich mir vor.
Katharina Koufen lebt seit acht Jahren in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen