■ Brechen deutsche Richter Menschenrechte?: Revisionsbedarf
In allen zivilisierten Ländern der Welt gilt: keine Strafe ohne Gesetz. Das Grundgesetz formuliert das umständlicher, aber ganz klar im Artikel 103 Absatz 2: „Eine Tat darf nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Der gleiche Grundsatz findet sich in der Menschenrechtskonvention der UNO.
Deutsche Richter aber finden nichts dabei, sich über diesen Grundsatz hinwegzusetzen. Zum Beispiel der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil gegen den früheren SED-Parteisekretär des Bezirks Suhl Hans Albrecht, den DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler und dessen Stellvertreter Fritz Streletz. Sie seien mitverantwortlich für die Todesschüsse, befand der 5. Strafsenat des BGH und verurteilte sie wegen Totschlags an der innerdeutschen Grenze zu mehrjährigen Gefängnisstrafen. In der Urteilsbegründung erklärte der Bundesgerichtshof: Nach geschriebenem DDR-Recht seien die „Taten“ der Angeklagten zwar nicht nur nicht strafbar, sondern sogar vorgeschrieben gewesen, dennoch seien sie zu verurteilen, weil dieses DDR-Recht gegen „überpositives“ Recht verstoßen habe.
Streletz legte Einspruch ein. Er sah in dem Urteil einen Verstoß gegen den Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Nun scheint das Bundesverfassungsgericht sich dieser Auffassung anzuschließen. Es hat einstweilig angeordnet, daß die drei ihre Strafen erst einmal nicht antreten müssen. Ihre Grundrechte könnten durch die Verurteilung verletzt worden sein, erklärte das Bundesverfassungsgericht. Sollte es nach einer endgültigen Prüfung der Akten bei dieser Auffassung bleiben, dann wird ein Großteil der bisherigen Mauerschuß-Urteile gegen die Verantwortlichen der DDR revidiert werden müssen. Um die Bedeutung der einstweiigen Anordnung richtig einzuschätzen, muß man wissen, daß nach einer von R. Zuck vorgelegten und bis zum Jahr 1987 reichenden statistischen Auswertung aller einstweiligen Anordnungen und der entsprechenden Entscheidungen in der Hauptsache letztere immer mit ersteren übereinstimmten.
Kein einziges Gericht hat bisher einen angeklagten Grenzschützer freigesprochen, weil seine Tat in der DDR nicht strafbar war. Keiner dieser Richter kann sagen, er habe es nicht besser gewußt. Es sei denn, er bekennt, den Artikel 103 Absatz 2 unseres Grundgesetzes nicht zu kennen. Johannes Eisenberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen