Brasilien nach dem Giftschlamm: Schlammabwärts
Im November 2015 überrollte eine Giftschlammlawine mehrere Dörfer. „Das Desaster nimmt kein Ende“, sagt eine Betroffene heute.
Bento Rodriguez/Mariana taz | Es ist heiß, der Lehm der Landstraße ist staubtrocken. Samaria Caetana Quintão steht in Gummilatschen am Straßenrand und schaut hinüber nach Bento Rodriguez, auf das Dorf, in dem sie 42 Jahre lang gelebt hat. „Dort, wo die beiden Mangobäume zu sehen sind, stand mein Haus, gleich neben der Kirche. Sie war 300 Jahre alt, aber nicht einmal die Mauern sind stehen geblieben.“ Mitten in der idyllischen, grün bewachsenen Berglandschaft im Bundesstaat Minas Gerais bietet sich ein grausiges Bild. Das Dorf und alle flachen Flächen rundherum sind von einer meterdicken Schlammschicht bedeckt.
Ein lehmfarbener Fluss trennt die Straße von den Ruinen des Dorfs. Nur einige höher gelegene Häuser der 700-Seelen-Gemeinde sind einigermaßen verschont geblieben. „Weiter kommen wir nicht“, ruft Samaria, „der Zugang zu meinem Bento ist uns versperrt.“ Der Lärm der Bagger und Lastwagen, die im schlammigen Flussbett zugange sind, erschwert die Unterhaltung. Sie wisse nicht, was dort gebaut wird, sagt Samaria, vielleicht ein neuer Staudamm, denn das braune Wasser fließe ja immer weiter. „Von hier zum Rio Doce, dann durch den Bundesstaat Espírito Santo bis ins Meer. Das Desaster nimmt kein Ende.“
Jedes Wochenende kommt Samaria Caetana Quintão mit ihrer Familie und Freunden hierher. „Matar saudades“ – wegen der Sehnsucht. Sie sprechen über den verlorenen Alltag, glauben liebgewonnene Orte in den Lehmmassen zu erkennen, erzählen Anekdoten. Es wirkt, als ob sie die gestrige Folge der Telenovela kommentieren. Paula spielt dabei eine Hauptrolle. Sie arbeitete beim Minenbetreiber Samarco und hörte im Funk, dass der Damm gebrochen sei. Wie eine Wahnsinnige raste sie auf ihrem Moped durch die Straßen, schrie und warnte alle, die gerade im Dorf waren. „Sie hat zig Leuten das Leben gerettet“, sagt jemand. Denn es gab keine Sirene, um die Leute zu warnen. Es scheint allen gut zu tun, von dem Drama erzählen zu können.
Es war kurz vor 16 Uhr, am 5. November 2015, als der Schlamm kam. Rund vier Kilometer oberhalb von Bento Rodriguez war der Damm eines Klärschlammbeckens gebrochen. Das Unternehmen Samarco, das zu gleichen Teilen dem brasilianischen Bergbauriesen Vale und der australischen BHP Billiton gehört, betreibt dort eine Eisenmine. Eine von vielen im zentralen Bundesstaat Minas Gerais.
„Hier ist alles so steril“
Die Schlammlawine tötete insgesamt 19 Arbeiter und Bewohner von Bento Rodriguez. Mehrere Dörfer begrub der Schlamm ganz oder teilweise unter sich. Dann ergoss sich die rotbraune Brühe in den Rio Doce und floss langsam, aber unaufhaltsam in den Atlantik. Noch lange wird sich der einst klare Strom wie ein rotes Band durch die Landschaft ziehen. Wochenlang war die Trinkwasserversorgung in der ganzen Region unterbrochen. Fischer haben ihren Lebensunterhalt verloren.
Samaria Caetana Quintão lebt jetzt in Mariana, einer Kleinstadt mit historischem Ortskern, knapp 20 Kilometer von Bento Rodriguez entfernt. Sie wohnt in einem zweistöckigen Neubau, wo Samarco Wohnungen angemietet hat. Über 700 Menschen hat die Firma nach der Katastrophe zuerst in Hotels und dann in Mietwohnungen in der Bezirkshauptstadt untergebracht. „Nein, zufrieden sind wir hier nicht“, sagt Samaria, die als Zahnarzthelferin arbeitet. „Hier ist alles so steril. Und viele meiner früheren Nachbarn sehe ich überhaupt nicht mehr.“
Für die vorläufige Entschädigung und die monatlichen Scheckkarten, die Samarco allen Vertriebenen zukommen ließ, empfindet Samaria nur bedingt Dankbarkeit. „Sie sind doch Schuld an unserem Desaster.“ Dankbar ist sie für die vielen Kleiderspenden, die aus ganz Brasilien in Mariana angekommen sind. „Das ist ein schönes Gefühl. Und trotzdem, ich möchte auch mal wieder in ein Geschäft gehen und mir selbst Klamotten kaufen, die mir gefallen.“ Dafür reicht das Geld nicht. Alles, was Samaria vorher im Garten zog, muss sie hier auf dem Markt kaufen.
Eine Minute Sirene
Wie an jedem 5. des Monats versammeln sich auch im April zahlreiche Betroffene in Mariana zu einer Gedenkminute. „Eine Minute Sirene“ nennt sich die Initiative. „Denn eine Minute Sirenengeheul hätte gereicht, um viele Menschenleben zu retten“, erklärt Samaria und hat zum ersten Mal einen zornigen Gesichtsausdruck. Nur wenige Bewohner von Mariana beteiligen sich an der Aktion. „Statt Mitgefühl zu zeigen, sehen sie in uns ein Problem. Als ob wir daran Schuld haben, dass die Mine jetzt stillliegt.“ Auch die Stadt Mariana ist von den Schäden der Schlammlawine betroffen – und wie die ganze Region Minas Gerais vom Bergbau abhängig.
Für Samaria Caetana Quintão ist es wichtig, dass die Betroffenen eine eigene Stimme haben. Deswegen macht sie bei der Zeitung Die Sirene mit. Studenten und Aktivisten unterstützen die Geschädigten, „aber in der Zeitung steht nur, was wir sagen und wie wir es sagen,“ betont Samaria. Zwei Ausgaben sind bereits erschienen, die dritte soll das Problem von Krankheiten und Depression unter den Überlebenden behandeln.
Die Idee, eine Zeitung zu machen, stammt von einem Priester der katholischen Kirche. Sie lässt das kostenlose Blatt auch drucken, 2.000 Exemplare Auflage. Alle arbeiten ehrenamtlich. Auf den Redaktionssitzungen bilden sich kleine Teams aus Betroffenen und Unterstützern, die gemeinsam ein Thema recherchieren. Airton Sales stammt aus Paracatú, das vielleicht 20 Kilometer flussabwärts liegt. Dort kam der Schlamm erst mehrere Stunden später als in Bento Rodriguez an, weswegen niemand ums Leben kam. Er begleitet ein Team von vier Amateurjournalisten zu den wenigen Bewohnern, die in Paracatú ausharren.
Die Schlammstandslinie
Kurz vor dem Dorf ist an Bäumen die braune Schlammstandslinie zu erkennen. Kaum vorstellbar. Einige Meter über dem jetzigen Flusspegel wälzte sich die Lawine heran. Auch an der Dorfkirche ist der damalige Pegelstand zu sehen. Die Verwüstung in Paracatú wirkt schlimmer als in Bento Rodriguez, da der Zugang nicht abgesperrt ist. Die Häuserdächer wurden von der Wucht hinweggefegt. Nicht die Türen, sondern höher gelegene Fenster gewähren Zutritt in die völlig verschlammten Ruinen. Küchengerät, Schränke, Gardinen, Bücher und sogar Zahnbürsten – alles liegt lehmgefärbt herum, als ob es gestern noch benutzt worden sei.
Auf einer Anhöhe zeigt Airton auf ein Schild mit der Aufschrift „Treffpunkt im Notfall“. Samarco hat es nur Tage nach dem Dammbruch dort aufgestellt. Der schwergewichtige Hüne mit dunkler Hautfarbe muss lachen. Er lebt schon seit einigen Jahren in Mariana. Der Verlust des Dorfs, wo er bis vor Kurzem immer seine Familie besuchte, schmerzt ihn. „Wir haben unsere Geschichte, unsere Kultur verloren. Das ist unersetzbar, egal wie viel Entschädigung sie zahlen.“
Der Streit um Wiedergutmachung steht erst am Anfang. Vor Kurzem einigte sich Samarco mit der Bundesregierung und der Staatsanwaltschaft auf die Zahlung von umgerechnet rund 5 Milliarden Euro, um insbesondere die ökologischen Schäden im Laufe der kommenden 15 Jahre zu beseitigen. Das Geld soll in eine eigens dafür geschaffene Stiftung eingezahlt werden. Airton ist misstrauisch. „Bestimmt wird Samarco die Regeln bestimmen, während die Opfer kaum Mitspracherecht haben.“
Versandete Stromturbinen
Weiter talabwärts richtete die Schlammwelle weniger unmittelbare Schäden an. Je weiter weg vom Damm, desto niedriger der Schlammstand. Nach der Einmündung in den breiten Rio Doce floss die Lawine in einen Stausee. Die Staumauer musste geöffnet werden, die Stromturbinen sind bis heute wegen der Versandung abgeschaltet.
Walter de Morais schaut auf die Schlammwüste vor der geöffneten Staumauer. Vor seiner Pensionierung arbeitete er als Ingenieur bei Samarco, jetzt betreibt er eine kleine Pension in der Nähe des einstigen Stausees. Er gehört auch zu den Betroffenen, hat aber Glück im Unglück: Seine Pousada ist seit Monaten ausgebucht mit Samarco-Angestellten, die mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sind. Walter nimmt seinen früheren Arbeitgeber in Schutz. „Samarco unternimmt hier gigantische Anstrengungen und investiert sehr viel Geld.“ Er erklärt die Bauarbeiten: Der Sand wird hochgepumpt, mit Chemikalien vom Wasser getrennt und staubtrocken in riesige Schläuche verpackt. Diese werden in Ausbuchtungen des Stausees gestapelt und auf diese Weise wird der Fluss gesäubert.
Auch Samaria blickt inzwischen mit zaghaftem Optimismus in die Zukunft. Auf halbem Weg zwischen Mariana und ihrer zerstörten Heimat liegt das Areal, auf dem Neu-Bento-Rodriguez entstehen soll. „Es soll alles wieder so werden wie früher“, wünscht sie sich. „Rechts und links von der Straße die Wohnhäuser, und dort auf der Anhöhe die Kirche.“ Noch ist der Platz ein dichter Eukalyptuswald. Die Eigentümer haben Verkaufsbereitschaft signalisiert.