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Brandkatastrophe LudwigshafenDas Leben danach

Vor einem Jahr verlor Kamil Kaplan bei der Brandkatastrophe in Ludwigshafen Mutter, Frau und zwei Töchter. Mit seiner zehnjährigen Tochter versucht er jetzt, weiterzuleben.

Die Nacht, die für Kaplan alles veränderte: der Brand am Danziger Platz. Bild: dpa

Der Brand im Boulevard

Das Feuer von Ludwigshafen wurde von den türkischen Medien zur Kriegserklärung an die Türken hochgeschaukelt. Der Sender "Show-TV" zeigte vor dem Hintergrund der Brandbilder eine Deutschlandflagge mit einem Hakenkreuz. Das nationalistische Boulevardblat Aksam titelte "Nazi-Panik in Deutschland", die Türkiye war sich sicher: "Jetzt verbrennen sie uns wieder". Die Tageszeitung Hürriyet titelte am 5. Februar 2008 "Schlimmer als der Krieg" und später: "Einer hat gezündet - fünf haben es gesehen". "Die Deutschen assimilieren die Türken", schrieb ein Hürriyet-Kolumnist, und "wo sie es nicht können, verbrennen sie sie". Die Yeni Safak nannte die Ermittler "Nazi-Kommission".

Am schlimmsten ist es nachts. Da überfällt Kamil Kaplan nur noch unendliche Stille. Er schläft spät ein und steht früh auf. Einen Horror nennt Kamil das. Früher hörte er seine Frau Hülya neben sich atmen, zwischen ihnen schlief manchmal die vierjährige Karanfil, im Zimmer nebenan lagen die Töchter Derya und Dilara. Doch jetzt ist der Platz neben Kamil verwaist. Hülya, Karanfil und Dilara sind gestorben, und er war dabei.

Der Mann, der vor einem Jahr fast seine ganze Familie verloren hat, wohnt heute in einem Plattenbau in Ludwigshafen. Es sind nur wenige Minuten zu den Resten der Brandruine des Gebäudes, in dem seine Angehörigen umkamen. Mit seiner zehnjährigen Tochter Derya teilt er sich seit Kurzem eine Wohnung im Erdgeschoss. Die Wände wirken kahl, fast so, als sei das Leben anderswo geblieben. "Ich kann nicht höher leben, ich will nie wieder ein Kind aus dem Fenster werfen müssen", sagt der 33-Jährige. Denn genau das musste er am 3. Februar 2008.

An dem Sonntag ist Familie Kaplan zu Besuch bei Kamils Mutter am Danziger Platz 32. Die Kaplans feiern Kindergeburtstag, draußen feiern sie Fastnacht. Kurz nachdem der Straßenumzug das vierstöckige Eckgebäude passiert hat, geht um 16.20 Uhr der erste Notruf bei der Feuerwehr ein. In weniger als zwei Minuten sind die Einsatzkräfte vor Ort. Das hölzerne Treppenhaus ist da bereits verbrannt. "Rettet uns!", schreien Frauen und Männer. Manche springen aus dem in Flammen stehenden Gebäude, einige können mit Drehleitern herausgeholt werden. Kamil nicht. In seiner Verzweiflung wirft er seinen Neffen Onur aus dem dritten Stock, in die Arme des Polizisten Uwe Reuber. Es ist ein unerträgliches Bild, das um die Welt geht. Ein kleines Bündel Mensch im freien Fall.

Kamil schafft es danach auf den Fenstersims, zieht seine Tochter Derya an den Haaren hinterher. Gemeinsam werden sie gerettet. Kurz danach, um 16.38 Uhr, rollt eine Feuerwalze durch das Haus. Acht Menschen, darunter fünf Kinder, sterben an Rauchvergiftung. Eine Frau erliegt später ihren Verletzungen. Kamil muss wieder und wieder an diese Minuten denken. "Die Schreie machen mich verrückt. Die höre ich heute noch", erzählt er. "Meine Karanfil stand vor mir, ich habe gesehen, wie sie gestorben ist." Er verliert an diesem Nachmittag seine Frau Hülya (31), die Töchter Dilara (11), Karanfil (4) und seine Mutter Medine (48). Sein Bruder Cevded (24) ist seitdem querschnittsgelähmt.

Die Bilder von dem Brand werden überall gezeigt, auf allen Kanälen, in allen Zeitungen - und sofort sind die Erinnerungen an die fremdenfeindlichen Brandanschläge in Mölln 1992 und 1993 Solingen wieder da, bei denen acht türkische Frauen und Kinder umkamen. Seitdem gibt es Fragen, die sich die deutsche Gesellschaft gefallen lassen muss: Wie sicher sind Ausländer in diesem Land?

Das Misstrauen, das damals aufkam, besteht heute noch. Die Regierung aus Ankara schickte eigene Ermittler nach Ludwigshafen, Türken kritisierten, die Helfer seien zu spät gekommen, schlimmer noch: Die Feuerwehr hätte den Bewohnern nicht helfen wollen. Die Einsatzprotokolle beweisen aber das Gegenteil, 500 Personen und 70 Einsatzfahrzeuge waren vor Ort. Die Gerüchte halten sich dennoch hartnäckig. Junge Türken spuckten damals Fahrzeuge des Technischen Hilfswerks an. Als ein Türke den Feuerwehrchef Peter Friedrich beschimpfte, musste dieser vor versammelter Presse weinen. Dass seine Leute 50 Menschen aus dem brennenden Haus gerettet haben, wird schnell vergessen.

Dann tauchten diese Mädchen auf, und die Journalisten stürzten sich auf sie - wie ausgehungerte Tiere auf ihre Beute. Die Kinder wollten einen Mann gesehen haben, der im Hauseingang zündelte. Aber der mysteriöse Fremde wird nie gefunden.

Bis heute ist die Brandursache nicht endgültig geklärt, Rückstände von Brandsätzen wurden aber keine gefunden, die Ermittler vermuten, dass es einen Schwelbrand im Keller gab. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt, die Ursache wird wohl nie geklärt werden.

Klar jedoch ist, dass am 3. Februar 2008 nur sieben Notrufe bei der Feuerwehr eingegangen sind. Bei Bränden in dieser Größenordnung rufen in der Regel immer mehrere Dutzend Personen an, erklärt Feuerwehrchef Peter Friedrich. An Mangel an Augenzeugen kann es nicht liegen, über 1.600 Handybilder kursieren im Internet. Es war Fastnacht, tausende Menschen schauten sich den Straßenumzug an. "Wir müssen leider davon ausgehen, dass zahlreiche Beobachter Bilder gemacht haben, aber keinen Brand gemeldet haben", räumt Friedrich ein.

Die Toten wurden am 11. Februar 2008 im südostanatolischem Gaziantep beerdigt. Auf den frischen Gräbern lagen pompöse Kränze, gespendet von einheimischen Politikern. Doch schnell verwelkten die Blumen in der Türkei und am Zaun, der um die Brandruine in Ludwigshafen steht. Mitarbeiter der Stadt warfen die Briefe weg, die Passanten als Zeichen ihrer Anteilnahme an dem Absperrgitter festgesteckt hatten. Und Kamil lernte eine neue Wirklichkeit kennen. Seiner Trauer wird nicht viel Ruhe gegeben.

Journalisten belagern ihn, warten vor seiner Haustür. Wenige Tage nach dem Brand habe ihm ein Sender 100.000 Euro für einen Auftritt angeboten. "Dass ist doch ekelhaft, ich mache doch keine Geschäfte mit meinem Leid." Als seine Schwester im Dezember ein Kind bekommt, versuchen Fotografen, Bilder von dem Neugeborenen zu machen. Ein andermal schlagen ihm Redakteure vor, gemeinsam mit Onur, dem Kind, das er damals aus dem Fenster warf, und dem Polizisten Uwe Reuber, der es auffing, vor der Brandruine zu posieren - ein nettes Erinnerungsfoto für den Boulevard sollte es werden. "Ich habe die verjagt", sagt Kamil. Erst kürzlich habe er wieder 25.000 Euro für ein Interview abgelehnt. Wenn der erste Jahrestag der Katastrophe vorbei ist, will er wegziehen und nicht mehr mit der Presse sprechen. "In Ludwigshafen kennt uns jeder, ständig werden Derya und ich auf alles angesprochen", sagt er. "Es tut so weh und macht uns verrückt."

Man sieht dem Mann an, was das Leben mit ihm angerichtet hat. Seit er in jungen Jahren an Kinderlähmung erkrankte, braucht er Gehhilfen. Er wirkt sehr müde, spricht leise und hat wieder mit dem Rauchen angefangen. Während er redet, macht er lange Pausen. Er kann das Geschehene immer noch nicht ganz glauben. Aber Verbitterung spürt man dennoch nicht bei ihm. "Ich will kein Mitleid, das tut nur weh." Warum es ausgerechnet seine Familie getroffen hat? Diese Frage stellt er sich nicht. "Wir müssen weitermachen."

Manchmal schaut er sich Bilder und Videos von dem Feuer an. Auf der Internetplattform YouTube gibt es Szenen mit dem brennenden Haus, aufgenommen mit einem Handy - der Besitzer lacht, während er all das filmt. Als er davon erzählt, ändert sich Kamils ruhige Stimme nicht. Er weint nicht, schluckt nicht, er wirkt etwas apathisch, als würde er eine Szene aus einem Kinostreifen schildern. Wahrscheinlich ist das der natürliche Zustand eines Mannes, der fast alles verloren hat.

Der Nachrichtentechniker ist jetzt Hausmann, was er "schwierig" findet. Sein Lächeln ist dabei ohne jede Fröhlichkeit. Er kümmert sich um seine Tochter, versucht, sie abzulenken, einem normalen Lebensrhythmus zu folgen. Die zierliche Derya mit den wilden, braunen Haaren und den großen, braunen Augen hat nicht nur ihre Mutter und die Geschwister verloren. Ihre Schwester Dilara war auch ihre beste Freundin. Vierzehn Jahre waren Kamil und Hülya verheiratet, sie war seine erste große Liebe. Während er von ihr erzählt, raucht er viel. Eine neue Frau an seiner Seite möchte er sich nicht vorstellen. Er will nicht, dass Derya mit einer Stiefmutter aufwächst, denn "hinterher verstehen die sich nicht."

Früher trat Kamil als Musiker auf, heute liegen die Instrumente im Keller. Auf eine Bühne will er nicht mehr. "Dann muss ich daran denken, dass meine Familie das nicht mehr miterleben kann." Er will auch seine Tochter nicht allein lassen, zu groß ist die Angst, dass etwas passieren könnte in seiner Abwesenheit. Wer ihm, neben seiner Familie, noch großen Halt gibt, ist der Polizist Uwe Reuber. Die beiden sind seit dem Brand befreundet. Als Reubers Bruder im Dezember stirbt, ruft der Polizist seinen Freund nachts an und sucht Trost. Kamil muss kurz innehalten, als er davon erzählt. Die Männer verbindet nicht nur die Szene, als Reuber den kleinen Onur auffängt. Beiden tut es gut, zu reden, sich gegenseitig zu bestärken, sich im Hier und Jetzt zu ermutigen.

Wenn Kamil nachts nicht schlafen kann, die Stille ihn erdrückt, das gleichmäßige Atmen seiner Hülya ihm besonders fehlt, dann geht er an den Danziger Platz. Er müsse dies machen, um den Verlust akzeptieren zu können. Manchmal trifft er dort auch Verwandte, die er dann wegschickt. "Ich will nicht, dass sie noch mehr leiden", sagt er. Aber was denn mit ihm sei? "Ich muss mich doch um die anderen kümmern." Die Stadt hat nun die Genehmigung für den Abriss der Brandruine erteilt - demnächst soll mit einem Neubau begonnen werden.

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