Branchentreff Dokville: Realität oder DokTale
Der Fernsehbranchentreff "Dokville" setzte sich ein spannendes Thema und wollte eifrig diskutieren. Die Ergebnisse fallen dürftig aus. Man hatte schlicht die falschen Akteure eingeladen.
BERLIN taz | „Im ZDF sieht man immer nur Mumien oder Monaco“, spottete Lutz Hachmeister. Der renommierte Medienwissenschaftler und Fernsehmacher hatte die „pole position“ der Tagung "Dokville" inne. Er hielt das erste Referat, das in der Regel programmatisch die Richtung weist – oder besser, weisen könnte. Hachmeister lästerte gekonnt über das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Es würde immer „infantiler“, „didaktischer“ und „provinzieller“. Es gebe eine „Abwendung breiter Zuschauerschichten“, doch hänge man trotzdem an den Einschaltquoten als einziges Kriterium der Erfolgsbewertung. Das sei aber eine „drogenartige Anklammerung“.
Damit lieferte Hachmeister eine ätzende Zustandsbeschreibung dokumentarischer Formen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ab. Nur logisch, dass im Fernsehen nach neuen, aufregenden, quotenträchtigen Erzählformen gesucht wird. Das Haus des Dokumentarfilms, der Veranstalter von "Dokville", hatte auch griffig die Alternative formuliert. „Realität oder DokTale“ hieß es da, und im Untertitel: „Filmemacher auf Umwegen“. Doch wo waren sie, die Filmemacher auf Umwegen? Wo waren die Vertreter von „DokTale“, die Erfinder neuer Erzählweisen, die Pioniere zuschauerfreundlicher Dokus? Auf den Podien von "Dokville" jedenfalls nicht.
Drei Filme wurden in Ausschnitten vorgeführt und mit ihren Machern diskutiert. Am ehesten „neu“ in der Filmsprache erschien der Dokumentarfilm „Lenin kam nur bis Lüdenscheidt“. Ein Film, der es immerhin in die engere Auswahl zum „Deutschen Filmpreis“ geschafft hat. Der zentrale Protagonist des Films, der auch den Kommentar des Ich-Erzählers geschrieben und gesprochen hat, ist Richard David Precht. Das ist der, der hier nicht nur als „Philosoph“, sondern sogar als „Erfolgsphilosoph“ bezeichnet wird. „Höchst amüsant und mit wunderbar ironischer Distanz“ erzähle Precht über das Familienleben, das er als Kind von strikt links orientierten Eltern miterlebte.
DOKVILLE wird vom Stuttgarter „Haus des Dokumentarfilms“ veranstaltet. Dieses Jahr trafen sich vom 17. bis 18. Juni 2010 etwa 150 Teilnehmer in Ludwigsburg, vor allem aus der Branche von Film- und Fernsehmachern unterschiedlicher Profession, mit Referenten, die aus den Bereichen Kamera, Regie, Montage und Produktion sowie aus den Dozentenkreisen der Filmhochschulen kamen.
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Eckart Lottmann ist Fernsehautor und Journalist und lebt in Berlin.
Man erinnert sich: Precht spricht im Film von kratzenden Sisalteppichen seiner Kindheit, und davon, wie komisch daneben die Versuche seiner Eltern waren, sozialistisch gleich „gut“ zu definieren und kapitalistisch gleich „schlecht“. Das Programmheft sagt, Precht erkläre „in Sendung-mit-der-Maus-Manier die 68er Generation und das Erwachsenwerden in ihr.“ Das musste man interessant finden, fanden jedenfalls die beiden eingeladenen Redakteurinnen Jutta Krug vom WDR und Gudrun Hanke-El Ghomri vom SWR, die den Film maßgeblich mitfinanzierten. Auch der ebenfalls eingeladene Regisseur André Schäfer fand den Film gut. Freundliche Stichworte lieferte als Moderator Daniel Kothenschulte, seines Zeichens Filmkritiker der Frankfurter Rundschau.
Kein Problem war für die illustre Runde, dass der Film ausgiebig Material zeigt, das sorgfältig in Super-8-Qualität inszeniert worden war. Eigentlich ein Unding für einen Dokumentarfilm, aber hier spielte das keine Rolle. Es sei ja immerhin der Sohn von Richard David Precht gewesen, der da gefilmt worden sei. Der könne doch glaubhaft den Richard David Precht als Dreijährigen spielen. Grobkörnig und verwackelt gibt sich das Filmmaterial alle Mühe als authentisch gedreht zu erscheinen. Die Macher sagten dazu, dass man das doch spätestens am Ende des Films merke.
War das nun ein „Doktale“, oder war das die Realität? War das ein Umweg, der in Ordnung ist? Das blieb ungeklärt, war aber wohl okay, denn die Redakteurinnen Krug und Hanke-El Ghomri sind für viele interessante Dokumentarfilme verantwortlich.
Das zweite Werk, das unter dem Label „Der politische Film“ lief, hieß „Der große Ausverkauf“ und wurde immerhin mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Autor und Regisseur Florian Opitz zeigte ganz konkret an einzelnen Schicksalen, was es heißt, wenn Wasser und Strom, Gesundheit und Verkehr privatisiert werden. Auf vier Kontinenten findet Opitz seine Beispiele, und sie berühren wirklich: Mal kämpfen Menschen gegen diese Ausbeutung menschlicher Grundbedürfnisse an, mal haben sie mit ihrem individuellen Elend genug zu tun. Redakteurin Cristina Nord von der taz hatte den Film äußerst kritisch beurteilt. Sie schrieb unter dem Titel „Die Wirklichkeit ausbeuten“, dass Opitz keinen „Raum“ lasse für „eine ergebnisoffene Recherche und für Gespräche, die wirklich von Neugier angetrieben wären.“ Ihr Fazit: Opitz’ Bilder „erfüllen eine Funktion, indem sie eine zuvor schon existierende These untermauern.“ „Alle Tugenden des Dokumentarfilms“ träten „in den Hintergrund.“
Bei "Dokville" konnte Cristina Nord im Gespräch mit Florian Opitz ihre Kritik vertreten und begründen. Zumindest gab es die Gelegenheit dazu. Aber Cristina Nord überließ es Florian Opitz, ihre Kritik anzuführen. Sie beschränkte sich mehr oder weniger aufs Fragenstellen. Ein Punktsieg für Opitz, der mit der Gelassenheit des guten Gewissens feststellte: „Wir haben vier Jahre an dem Film gearbeitet, und Frau Nord hatte vielleicht zwei Stunden für ihren Artikel.“
Hatte nun Florian Opitz so was wie „DokTale“ gemacht, oder doch einen Dokumentarfilm „alter Schule“? Das war nicht genauer untersucht worden, aber vielleicht konnten ja die für das nächste Podium mit dem Titel „Dokumentarisch drehen“ eingeladenen Kameraleute Näheres über aktuelle Anforderungen sagen. Montage-Professor Hans Beller befragte die Kameraleute Lars Barthel, Börres Weiffenbach, Gregor Theuss und Justus Pankau. Der altgewordene Pankau sagte über die Autoren seiner ersten Schaffensphase: „Früher konnte man zugeben, dass man vom Bild nichts verstand.“ Heute, so scheint es, wohl nicht mehr. Heute gebe es die „Draufhalten-Filme“, so der Kameraexperte Pankau. Man dokumentiere zwar etwas, aber gestalte nicht mehr. Damit war der Ton der Diskussion vorgegeben.
Natürlich waren auch die anderen Kameraleute dafür, erst zu denken, und dann zu filmen. Lars Barthel gelang es, das Publikum ein bisschen träumen zu lassen. An jedem Drehtag gebe es „vielleicht einen, oder zwei magische Momente – Momente, in denen sich etwas verdichtet. Poetische Momente.“ Die zu erkennen und in Film umzusetzen, sei die Kunst. Dann setzte er zur Ehrenrettung des Films an: Der Film lebe, aber das Video bestehe nur aus Pixeln. Eine Teilnehmerin aus dem Publikum sagte schlicht, dass es viele schöne Filme würde nicht geben würde, ohne Video. Denn das Video habe auch ein demokratisches Element – so könnten auch Amateure ihr Material zu einem Film beisteuern. Auch eine Denkmöglichkeit. Dass die Kameraleute nicht nur behutsame, neugierige, offene Dokumentarfilme drehen, sondern vielfach auch dokumentarische Dutzendware unter großem ökonomischem Druck, sagten sie erst hinterher - unter vier Augen.
„Neukölln unlimited“ war unter der Überschrift „Der sozialkritische Film“ das dritte filmische Beispiel. Wieder war ein Filmredakteur, Bernd Haasis von den Stuttgarter Nachrichten, der Moderator. Erneut waren drei Macher des Films die Gesprächspartner auf dem Podium. Produzentin Sonia Otto betonte die dokumentarische Qualität des Films. „Inszenierung“ sei hier der „falsche Begriff“, eher ginge es ab und zu um „Initiierung“. In „Neukölln unlimited“ geht es um eine von der Abschiebung bedrohte libanesische Familie, aber die Chancen für einen dauerhaften Aufenthalt stehen gut, denn zwei bzw. drei der Kinder verdienen durch künstlerische Arbeit genügend Geld. Der jüngste Sohn, Maradona, gerät in ein fragwürdiges, vermeintlich kriminelles Umfeld. Auch wenn gerade dieser Aspekt filmisch spannend gewesen wäre, versicherten die Filmemacher dem entgegengewirkt zu haben: „Weil wir Menschen sind.“
Da war sie wieder, die Chance, Abgrenzungen gegen allzu wohlfeile dokumentarische Filme zu formulieren. Aber Bernd Haasis blieb der milde Fragensteller, und Willi Reschl, der für "Dokville" verantwortliche Geschäftsführer des Haus des Dokumentarfilms, konnte nur sagen: „Wir hätten natürlich jemanden einladen können von den privaten Sendern und ihn hier zum Schlachten freigeben. Aber das wollten wir nicht!“ So konnten noch ein paar weitere Diskussionen stattfinden mit Cutterinnen und Dokumentarfilm-Regisseuren, die jeweils deutlich für den achtsamen Dokumentarfilm eintraten. Und kluge Dinge zu sagen wussten. Bloß was eigentlich der „Doktale“ ist, was man sich darunter vorstellen kann, und wieso er eine Gefahr für die „Realität“ darstellt, das erfuhr man nicht.
Der Fernsehsender Arte bekam als einziger einen eigenen Programmplatz beim diesjährigen "Dokville". „ARTE – immer noch ein Eldorado für Dokumentaristen!“ hieß er, und auch das Ausrufezeichen stand so im Programm. In einer früheren Version war es noch ein Fragezeichen gewesen. Peter Gottschalk erinnerte zu Beginn seines Vortrags an Christian Bauer, der ein Jahr zuvor bei "Dokville" seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte und bald darauf verstarb. So hatte Gottschalk leichtes Spiel, als er schließlich überleitete zu Arte mit seinen vielen Plätzen für dokumentarische Filme. Auch Thomas Frickel, Vorsitzender der Dokumentarfilm-Vereinigung AG DOK, konnte Gottschalk mit seinem Einwurf - „Der Quotendruck ist absurd“ - nicht bremsen. „Wir brauchen gut laufende Fernsehprogramme, um auch die anderen, schwierigeren machen zu können“, sagte Gottschalk. Er ließ das neue Programmschema von Arte verteilen, prahl gefüllt mit den unterschiedlichsten Sorten dokumentarischer. Wen wunderts.
Und, wie sehen sie aus, die neuen dokumentarischen Formen? Darum ging es nicht, dieses Jahr in DOKVILLE. Erst nächstes Jahr wird in "Dokville" wieder der „Deutsche Dokumentarfilmpreis“ verliehen, der bis vor kurzem „Baden-Württembergischer Dokumentarfilmpreis“ hieß. Das Interesse dürte demzufolge größer sein. Diesmal blieb man mehr unter sich und trat für das Wahre, das Echte ein. Die Moderatoren waren vergaßen ein wofür sie da sind, denn eigentlich hätten sie kritische Fragen stellen sollen, um die Diskussion in Gang zu bringen. In der Branche gibt es noch andere Auffassungen über das dokumentarische Erzählen. Mit einer Berechtigung, über die man streiten könnte. Aber um sie zu präsentieren, hätte man die Vertreter der anderen Seite einladen müssen.
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