Bradley Wiggins siegt bei Tour de France: Klebekoteletten à la Wiggins
Mit Bradley Wiggins gewinnt erstmals ein Brite die Frankreich-Rundfahrt - obwohl dem Kotelettenträger der Radsport nicht in die Wiege gelegt wurde.
CHARTRES taz| Zeit für den Backenbart. Zu Ehren von Britanniens schlankstem Kotelettenträger Bradley Wiggins hatten sich viele Fans von der Insel die rötlichen Haarteilchen auf die Wangen geklebt und den ersten Toursieg ihres Idols für ihre Heimat gefeiert. Wiggins gewann auch das Zeitfahren von Bonneval nach Chartres. Er distanzierte auf den 53,5 Kilometern am Samstag seinen Teamkameraden Christopher Froome um mehr als eine Minute – und stellte damit die zeitweise ins Wanken gekommene Hierarchie wieder her. Am Sonntag schließlich fuhr er das Gelbe Trikot gemütlich nach Paris.
Vielleicht ist ihm jetzt sogar seine ehemalige Französischlehrerin gnädig. „Sie hat mich gehasst und deshalb habe ich kaum drei Worte Französisch gekonnt, als ich vor zehn Jahren nach Frankreich kam, um es dort mit dem Straßenradsport zu versuchen“, bemerkte Bradley Wiggins gut gelaunt am Vorabend seines bislang größten sportlichen Triumphes. Der skurrile Brite erzählte, dass er sich die Sprache seiner zwischenzeitlichen Heimat – sieben Jahre bei den Teams FDJeux, Credit Agricole und Cofidis – eher selbst beim Gucken der Sendungen von Frankreichs anarchischstem Fernsehkomiker Michael Youn beigebracht hätte.
Dessen Show „Morning Live“ wirkt zuweilen wie ein festländischer Ableger von Monty Python, nur ein klein wenig ordinärer. Kein Wunder, dass dies dem Mann, der auf Pressekonferenzen Kritiker schon einmal mit dem Schimpfwort „Fucking Wankers“ (Flachwichser) belegt, daran Gefallen fand. Inzwischen kann er sich nicht nur gewählt des Französischen bedienen, er ist auch der König von Frankreichs größtem und bedeutendstem sportlichen Event. Wiggins ordnete den Toursieg selbst höher als seine drei Olympiasiege im Bahnfahren ein: „Für einen Radsportler ist es das Größte, eine Tour de France zu gewinnen.“
In die Wiege gelegt hat ihm das niemand. Wiggins führte ein eher sportfernes Jugendleben zwischen Rastafaris, Punks und Mods in der Subkultur von Camden. Noch heute besitzt er einige – nicht unbedingt polizeilich zugelassene – Motorräder der Marken Vespa und Beretta, mit denen die Mods über die Straßen brausten. Dennoch war er im Bahnradsport zwischen den Jahren 2000 und 2008 die bestimmende Größe. Es folgten Krisen: „Ich wusste nach Olympia 2004 nicht mehr, was ich noch gewinnen sollte. Ich verlor den Boden unter den Füßen und wurde beinahe zum Alkoholiker.“ Das verhinderte er, indem er seine Aufmerksamkeit dem Straßenradsport zuwandte.
Besessenheit und Liebe zum Detail im Fahrstil
Hier dauerte es einen weiteren Olympiazyklus, bis er eine Tour de France gewinnen konnte. Bereits 2009 wurde er zwar Vierter der Tour, aber der Weg ganz nach oben gestaltete sich schwieriger als erwartet. Wiggins plagte sich mit Stürzen herum, mit spöttischen Blicken der Kollegen über den Bruchpiloten von der Bahn. Er verfügte aber über eine Besessenheit und eine Liebe zum Detail, die die gelernten Straßenprofis, die sich mit der ersten Vertragsunterschrift oft schon als die Könige der Landstraße wähnen, nicht aufbringen.
Zu erkennen ist dies an seinem Fahrstil. Von den einen wird er als „roboterhaft“ gescholten, andere sehen darin gelebte Perfektion. Sein Rücken – durch Fitnesstraining zusätzlich gestärkt – liegt glatt wie ein Brett parallel zur Straße und bietet kaum Luftwiderstand. Seine Hüfte ist wie festgeschraubt am Sattel – keine Energie geht zur Seite weg, alles wird in die auf und ab stampfenden Beinkolben übertragen. Wiggins legte sich diesen Stil als Bahnfahrer zu. Beim Zeitfahren auf der Straße ist dies ein enormer Vorteil.
In der Strategie seines Teams Sky spielte dies angesichts der mehr als 100 Zeitfahrkilometer bei der diesjährigen Auflage der Tour die herausragende Rolle. Die Briten hielten sich stets streng an ihren Plan. Im Gegensatz zu der knochentrockenen Disziplin seines Rennstalls meinte Wiggins aber: „Die Tour ist menschlicher geworden.“ Er meinte damit, dass die Leistungen, auch seine, größeren Schwankungen unterliegen und so weniger des Doping verdächtig seien. Das ist zu hoffen. Denn sonst wandern die Klebekoteletten bald auf den Haufen, auf dem schon die gelben Livestrong-Armbänder liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch