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Boulevard unter S-Bahn-Brücken

■ »Wannecke — oder: So kann man doch nicht leben« auf der Grips-Probebühne am S-Bahn-Bogen

So kann man doch nicht leben!« entfährt es der Sozialfürsorgerin in der Amtsstube, als Paul Wannecke ihr aus seinem nichtseßhaften Leben erzählt. Dabei fühlt sich der alte Berber recht wohl in seiner ungewaschenen Haut. Wenn da nicht gelegentlich die kleinen pekuniären Nöte wären — er würde sicher nicht klagen. Aber Wannecke ist mal wieder »mause«, und so hätte er von der Sozi-Dame doch gerne ein paar Piepen und — wenn's denn ginge — eine vorübergehende Bleibe im Obdachlosenheim...

Eine recht sozial-all-tägliche Geschichte wird uns da auf der Probebühne des Grips-Theaters vorgespielt, möchte man zunächst meinen. Aber natürlich kommt es auf der kleinen Bühne unter der S-Bahn-Brücke am Hansaplatz dann doch (erstens) ganz anders, als man (zweitens) denkt: Der alte Streetfighter Wannecke (Christian Veit) hält die Hausordnung der Heilsarmee nicht aus, kampiert doch lieber wie gewohnt auf der Bahnhofsbank und trifft dort am nächsten Morgen — wer hätte das gedacht! — ausgerechnet die Fürsorgedame aus der Amtsstube. Ein ungleiches Tête-à-tête beginnt. Wannecke, der in den letzten 65 Jahren deutscher Wirklichkeit bisher keinen rechten Platz gefunden hat, quatscht so lyrisch drauflos, wie Berliner Pennbrüder das eben so tun (BVG- Benutzer kennen das zur Genüge aus eigener Anschauung), und bringt die überkorrekte Frau Nützling mit seiner Obdachlosen-Philosophie zunächst allmorgendlich zur Verzweiflung und dann doch noch in eine nachhaltige Sinnkrise. Als die arme Frau schließlich erkennt, daß sie »doch so nicht leben kann«, landet die Fürsorgerin vorübergehend in der Psychiatrie.

Auch der alte Wannecke wird geprüft, er erbt — gewissermaßen aus Gründen der dramaturgischen Ausgeglichenheit — ein altes Mietshaus in Köpenick. Aber Wannecke wäre nicht Wannecke und das Theater kein Theater, wenn der alte Philosoph nun gar ein ehrbares Leben als Hausbesitzer beginnen würde. Und so kommt es nach der Pause noch einmal (erstens) gar nicht anders, als man (zweitens) schon geahnt hatte: Wannecke versäuft das Geld, verschenkt das Haus, und am Ende liegen sich die geläuterte Frau Nützling (Renate Blume) und ihr reich gewordener Unterstützungsempfänger lachend in den Armen.

»Wannecke oder: So kann man doch nicht leben« ist ein unangenehm rührseliges Theaterstück nach dem autobiographischen Roman Die Welt von unten von Wolfgang Graetz. Reiner Lücker, seit zwanzig Jahren Mitautor und Regisseur vieler Grips- Stücke, hat den Text handwerklich korrekt für die Bühne bearbeitet, dabei allerdings offenbar die stoffliche Qualität der Vorlage nicht näher in Augenschein genommen. Da kann Christian Veit, ebenfalls ein alter, verdienter Gripser, den Wannecke noch so virtuos verkörpern (er tut das mit hinreißendem Charme und augenzwinkernder Komik und ist so letztlich der Retter des Abends); da kann sich Adelheid Kleineidamm mit ihrem gelungenen dreifachen Rittberger als Sozialfürsorgerin, Anwältin und Anlageberaterin noch so sehr als zukünftiges Grips-Mitglied empfehlen (mit dem »Wannecke« beginnt ihr festes Engagement im Grips) — das Stück bleibt schrecklich rührselig und konstruiert — so konstruiert, daß man es wohl besser den Boulevardbühnen am Ku'damm als »Zeitkritik« verkauft hätte. Klaudia Brunst

14.-16. Mai, 20.30 Uhr im Grips- Bogen (ehem. Probebühne) S- Bahn-Bogen 449, Tiergarten

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