Bostoner über Marathon-Anschläge: Fremd in meiner Stadt
Drei Monate sind seit dem Anschlag in Boston vergangen. Der Autor dieses Textes hat sich verändert. Er wohnt in dem Viertel, aus dem die Attentäter kommen.
BOSTON taz | Ich lebe in Boston. Der Stadt, in der vor drei Monaten beim Marathon Bomben explodierten. Derselben Stadt, von der 1776 die Amerikanische Revolution ausging. Derselben Stadt, in der schwarze Kinder bis in die siebziger Jahre „Nigger“ genannt wurden, wenn sie zur Schule kamen.
Ich komme aus Atlanta, Georgia. Von daher bin ich beides: in Boston ansässig, aber gleichzeitig fremd. Meine Mitbürger sind berüchtigt dafür, Fremden gegenüber distanziert zu sein. In Boston herrscht ein Gefühl von Abgeschlossenheit. Wir Bewohner witzeln gern darüber, dass Alteingesessene – also jene, die seit mehreren Generationen hier leben – so langsam beginnen nachzugeben: „Du denkst also darüber nach, hier Wurzeln zu schlagen.“
Wenn ich sage, dass ich aus Boston komme, muss ich konkreter werden: Ich wohne auf der anderen Seite des Boston River. Dieser Teil der Stadt, in dem ich lebe, wird von den Einwohnern gemeinhin „The People’s Republic of Cambridge“ genannt. Wir bilden uns auf unsere Liberalität etwas ein. Nicht umsonst liegen die Universität Harvard und das MIT (Massachusetts Institute of Technology) in nächster Nähe. Wir sind eine atomwaffenfreie Zone. Unser Bürgermeister ist schwul. Und doch haben wir, genau wie in der Innenstadt, auch dieses Gefühl der Abgeschlossenheit.
Fremden gegenüber sind wir äußerst zurückhaltend. Auf der Straße vermeiden wir Augenkontakt. Und wir sagen ganz bestimmt nicht Hallo. Wie erwähnt, bin ich ein Transplantat, das gerade beginnt, sich anzupassen.
Aus dieser Position heraus denke ich über die Bombenattentäter nach. Zwei Brüder aus Tschetschenien – einem islamisch geprägten Staat in der Russischen Föderation, der sich in einem langen Konflikt mit dieser befindet –, die sich offensichtlich auch in Boston heimisch fühlten und gleichzeitig eben nicht. Insbesondere der ältere, Tamerlan – von der Polizei erschossen und aus Versehen von seinem Bruder überfahren –, fühlte so. Da er das nicht mehr bestätigen kann, muss es sein Bruder tun.
Gefühl der Ausgrenzung
Und gerade dieser überlebende Bruder, Dschochar, ist eine schillernde Figur. Denn es schien, als wäre er einer, der perfekt nach Boston passt. Doch offensichtlich tat er das nie. Im Gegenteil. Dschochar fühlte sich insgeheim ausgegrenzt. Angesichts der Beziehung, die die Brüder zu ihrer Wahlheimat hatten (Tamerlan: „Ich habe keinen einzigen amerikanischen Freund“; Dschochar: „Ich bin ein Typ, der sich nicht stressen lässt“), fing ich an, mir nicht nur Gedanken über ihre Motive zu machen, sondern über die Stadt, in der sie lebten. Was sagt ihre direkte Umgebung über das aus, was passiert ist?
Ich will nun schildern, wie ich Boston vor und nach der Krise wahrgenommen habe. Dschochars Highschool liegt direkt bei mir um die Ecke. Und die Wohnung, in der sein älterer Bruder Tamerlan lebte, liegt ungefähr fünf Blocks von meinem Wohnhaus entfernt. Am Tag nach Tamerlans Tod und Dschochars Verschwinden stand ich, wie alle, unter „Hausarrest“. Wir rätselten darüber, wer das Attentat verübt haben könnte.
Dann war klar: Die Tat begingen zwei Jungs aus der Nachbarschaft, kaum aus dem Teenageralter raus, eine Art fehlgeleitete Version von Matt Damon und Ben Affleck. Wir wollten alles über sie wissen: dass sie Migranten waren, Tschetschenen, vielleicht Muslime.
Die Behörden haben uns gebeten, zu Hause zu bleiben. Der Bürgermeister und der Gouverneur traten zusammen vor die Kameras und sagten, dass es sowohl zu unserer eigenen Sicherheit sei als auch dazu, die polizeilichen Ermittlungen nicht zu behindern. In dem Bewusstsein, dass der Flüchtige vermutlich in einen Mord verwickelt war und auf der Flucht jemanden gekidnappt hatte, gehorchte ich, wie alle meine Bekannten auch.
„Starkes Boston“
Während ich zu Hause blieb, ging ich ab und zu auf Facebook, um meine Freunde zu „treffen“ – und las emotional aufgeladene Statements. Ständig fiel die Floskel „Bleib stark“, bald wurde daraus das allgegenwärtige „Starkes Boston“. Am häufigsten las ich: „Pass auf dich auf.“
Nachdem der Verdächtige festgesetzt war, blieb es beim Ruf nach Stärke. Variationen von „Starkes Boston“ tauchten auf Schildern in der ganzen Stadt auf. Eins davon hängt noch immer unter der Reiterstatue des Milizionärs und Revolutionsführers Paul Revere (1734–1818). Genau wie Reveres Parole „Die Briten kommen“ ist auch „Starkes Boston“ ein Ruf zu den Waffen.
Sein Imperativ war mehr Befehl denn Vorschlag, und die Stärke, die die Formulierung heraufbeschwor, klang verdächtig nach amerikanischer Macht. Als ich dann auf der Facebook-Seite eines rechtslastigen Veteranen, mit dem ich bekannt bin, einen antitschetschenischen Eintrag las, war ich nicht wirklich überrascht. Die Demonstration von Stärke war in den Vierteln am sichtbarsten, die mit dem Attentat in direktem Zusammenhang standen.
Eines Morgens frühstückte ich in der Nähe der Stelle, an der Tamerlan starb. Die Kellnerin zeigte sie mir, als sei es das Normalste von der Welt. Aber vermutlich hätte ich die unscheinbare, von Bäumen umstandene Ecke sowieso gefunden. Die vielen Flaggen, die an den umliegenden Vordächern baumelten, hätten mir den Weg gewiesen. Insgesamt waren es sieben: fünf Stars and Stripes, eine der Republik Irland – Boston ist eine irisch-katholische Hochburg – und eine mit einem wappentierartigen Löwen.
Die USA sind flaggenverrückt, bei jeder Gelegenheit werden die Stars and Stripes geschwenkt. Trotzdem machte es nicht den Eindruck, als hätte nun fast jedes Haus am Platze zufällig gehisst. Als ich dann auch noch eines dieser allgegenwärtigen „Starkes Boston“-Schilder sah, war ich mir sicher, die richtige Stelle gefunden zu haben.
Seltsamere Dinge
Etwa 15 Minuten nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, machte ich einen Spaziergang. Die Hubschrauber kreisten noch am Himmel und die Sirenen waren noch nicht verstummt. Ich ging zu dem Haus, wo der ältere Bruder lebte. Je mehr ich mich dem Haus des toten Verdächtigen näherte, desto seltsamere Dinge passierten. Die Leute standen vor Hauseingängen, saßen auf Stühlen, die sie auf die Gehsteige gestellt hatten, und an der Ecke, wo der tote Verdächtige lebte, liefen sie sogar direkt auf der Straße umher.
Besonders ins Auge fiel die Zusammensetzung der Menschenmenge. Braune Gesichter, schwarze Gesichter, weiße Gesichter und gelbe. Sie unterhielten sich in den verschiedensten Sprachen und Dialekten, mit den unterschiedlichsten Akzenten. Alle verbunden durch die Situation. Nach und nach nahm ich auch die Schilder der umliegenden Läden wahr. Das Casa Portugal lag neben dem Brazilian Salon und das Spice & Thai Restaurant neben dem Clover Vegatarian Spot. Schließlich das leuchtend gelbe Schild des Born Café, das ich oft in den Nachrichten gesehen hatte – eine Espressospelunke mit direktem Draht nach Rio.
Was haben die Brüder gesehen, wenn sie diese Straße runtergelaufen sind? Sind sie jemals irgendwo eingekehrt und haben sich mit ihren Nachbarn unterhalten? Wenn sich ihr Groll gegen die ausschließende amerikanische Gesellschaft richtete, haben sie die bunte Mischung der Nationen und Kulturen an dieser Ecke übersehen.
Verarmte Gegend, alte Klamotten
Alle waren akzeptiert, alle sich selbst überlassen, alle in den USA willkommen geheißen. Und dann habe ich mir kurz die Augen gerieben und mich plötzlich doch wieder von der Szenerie losgelöst gefühlt. Denn wenn die USA wirklich all diese Kulturen und Nationen willkommen geheißen hätte, dann würden sie nicht alle in dieser verarmten Gegend wohnen, die gerade dabei ist, gentrifiziert zu werden. Und sie würden nicht alle so abgetragene Klamotten anhaben, die aussehen, als wären sie aus dem Trödelladen.
Abgesehen davon haben die Brüder nie behauptet, gegen Multikulturalismus zu sein. Das behaupteten die Experten, die sich auf die aufwieglerischen Videos auf deren Websites bezogen. Wie auch immer, die Brüder hatten gepostet, gegen die Kriege, die Amerika im Mittleren Osten führt, zu protestieren.
Sie beantworteten Gewalt mit Gewalt. Und dann habe ich mir wieder die Augen gerieben. Denn weshalb fing ich plötzlich an, die Attentäter zu verteidigen? Diese Arschlöcher gingen an einen öffentlichen Ort, der sich dem Sport verschrieben hatte, und bliesen Nägel in menschliche Körper. Hinterher lagen abgerissene Beine auf der Straße. Blut floss in die Kanalisation. Ein sechsjähriger Junge starb.
Ich kenne jemanden, dessen Tochter mit dem Jungen zur Schule gegangen ist. Dieses Mädchen hatte immer noch Angst, draußen zu spielen. Es sah schweigend aus dem Fenster, als ob es unter permanentem Hausarrest stehen würde. Wer weiß?
„Ihresgleichen“ und „meinesgleichen“
Ich komme von diesem Ort, und ich sehe, was hier los ist und ich sehe, wie es die Leute betrifft. Trotzdem lese ich, was anderswo los ist, in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten, und fühle mit anderen. Werde ich je verstehen, was die Brüder und ihresgleichen fühlen? Kann ich überhaupt annehmen, dass es ein „ihresgleichen“ gibt, während ich nicht an ein „meinesgleichen“ glaube? Ich bin an einem Ort, ich fühle mit den Opfern, und ich frage mich, warum das passiert ist.
Aber habe ich mit ihnen mehr zu tun als mit irgendjemand sonst auf der Welt? Muss ich angesichts dieses Attentats „stark sein“, oder sollte ich lernen, anders zu reagieren? Jedes Mal, wenn ich an einem dieser „Boston Strong“-Transparente vorbeikomme, murmle ich: Pass auf dich auf. Pass auf dich auf, indem du auf andere aufpasst, überall, so oft wie möglich.
Und während du das tust, lass die Identifikationsmerkmale von Stadt, Land oder Ethnie außer Acht. Falls du nicht sowieso „Pass auf dich auf“ zur gesamten Menschheit sagen willst.
Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Prahl
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