piwik no script img

Bosnisches Dorf im Hungerstreik

■ Die Hälfte der Einwohner will mit dem Protest gegen die jugoslawische Wirtschaftspolitik protestieren

Aus Belgrad Roland Hofwiler

„Schert euch zum Teufel, ihr Parteibonzen!“ rief die aufgebrachte Menge vor dem Rathaus in Masevac. Und trotz eisiger Kälte begannen 350 Einwohner des 700 Seelen zählenden bosnischen Bergdorfes am Freitag einen kollektiven Hungerstreik, der auch gestern noch fortgesetzt wurde. Ihre Forderung: Die Haftentlassung von vier Arbeitern, die vom kommunistischen Gemeinderat beschuldigt werden, die Parteiobersten des Ortes tätlich angegriffen und deren Eigentum beschädigt zu haben. „Alles Lüge“, so ein Streikender. „Wir alle im Dorf fordern die Absetzung der Parteioberen, die auf unserem Rücken die Wirtschaft sanieren. Das ist hier eine Parteimafia wie in Velika Kladusa.“ Velika Kladusa gilt seit September in Jugoslawien als Inbegriff für Korruption. In dem bosnischen Städtchen ist der Sitz von „Agrokomerc“, einem Lebensmittelriesen, der dem Vielvölker staat zu den enormen Auslandsschulden von 20 Milliarden Dollar noch eine weitere Milliarde wegen Korruption, Steuerhinterziehung und Mißmanagement bescherte. Während nur einige der Firmenchefs hinter Gittern landeten, sahen etwa 13.000 Agrokomerc–Beschäftigte seit Bekanntwerden des Finanzskandals nur ein Fünftel des früheren Gehalts am Boden ihrer Lohntüte. „Wir alle zahlen nun die Agrokomerc–Zeche, ob wir nun in Velika Kladusa, in Zeninca oder hier in Masevac leben“, meint ein Hungerstreikender. „Die Preise steigen bei 170 Prozent Inflation ins Unermeßliche, und unsere Löhne werden immer kleiner, liegen zur Zeit bei uns im Dorf unter 100 Mark monatlich. Der Mann möchte seinen Namen nicht nennen, und es gibt gute Gründe dafür: Erst kurz vor Beginn des kollektiven Hungerstreiks, an dem gestern immer noch 100 Personen teilnahmen, traten Arbeiter des Stahlwerkes Zeninca mit der Forderung an die jugoslawische Presse, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Als Grund geben sie Unzufriedenheit mit den offiziellen kommunistischen Gewerkschaften an, die die Arbeiterschaft im Agrokomerc–Skandal und bei wilden Streiks in den Rücken gefallen seien. Die Beschäftigten fordern in ihrem Appell die Beschlagnahmung von Parteieigentum und die Verteilung des durch dessen Verkauf erzielten Erlöses an alle Arbeiter, deren Lohntüte wegen Agrokomerc geleert wurde. Außer dem Ljubljanaer Alternativ–Magazin Mladina veröffentlichte keine Zeitung die Forderungen. Mladina brachte den Text ohne Unterschriften, um die Arbeiter vor Repressionen zu schützen. Und zu denen soll es tatsächlich gekommen sein. Seit Tagen führen Polizisten in Zeninca Razzien durch, um den Originalaufruf aufzustöbern. In Mosevac hielten sich die Ordnungshüter bisher zurück. Doch in der Parteipresse stand kein Wort zum Hungerstreik, dafür aber der Hinweis, in dem Bergdorf sei man kürzlich unzähliger „Randalierer“ habhaft geworden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen