Borodjanka nach dem russischen Abzug: Menschliche Schutzschilde
Wie verhält man sich gegenüber Menschen, die wochenlang unter russischer Besatzung gelitten haben? Während man selbst in Sicherheit war?
B orodjanka. Bis zum russischen Großangriff auf die Ukraine hatte ich von diesem Städtchen, 60 Kilometer von Kiew entfernt, noch nie gehört. Das änderte sich, als Anfang März ein russisches Kampfflugzeug eine Bombe auf eins der Hochhäuser dort abgeworfen hatte. Jeder der Orte in der Region Kiew hat seine Besonderheiten.
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Butscha assoziiert man vor allem mit den Gräueltaten, die russische Soldaten an der Zivilbevölkerung verübt haben. Bei Hostomel denkt man an die Kämpfe um den Flughafen und die Zerstörung des größten Frachtflugzeuges der Welt. Und bei Borodjanka an die russische Bombardierung von Hochhäusern – von neunundzwanzig Stockwerken müssen mindestens acht abgetragen werden
Während der Okkupation von Borodjanka war ich in der Westukraine. Eines Abends sah ich beim Nachhausekommen einen Mann, der auf mich wirkte wie ein Saboteur (Argwohn ist nur eines der Kriegssyndrome) – er sah sich die ganze Zeit um, schaute in die Innenhöfe.
Am nächsten Tag traf ich ihn in einem der Kurse für Erste Hilfe und Kampftraining: Miroslaw aus Borodjanka. Wie durch ein Wunder hatte er es geschafft, sich selbst und seine Mutter unter dem Lärm der feindlichen Bomber und Explosionen aus der Stadt herauszubringen. Miroslaw bemühte sich, sich an positiven Dingen festzuhalten. Alles Schwere konnte man nur zwischen den Zeilen lesen. Erst sprach er über Blumen aus seinem Garten in Borodjanka, am Ende über eine befreundete Familie unter den Trümmern eines Hauses. Sie könnten noch leben, man müsste sie retten.
Dann versank er ins Grübeln. Sie waren schon einige Tage unter den Trümmern begraben und damals, Mitte März, schien eine Bahnfahrt nach Borodjanka ganz und gar unmöglich.
35 Jahre, Journalistin und Dokumentarfilmerin . Hatte Kyjiw vorübergehend Richtung Westukraine verlassen, lebt aktuell wieder in der ukrainischen Hauptstadt
Aber Anfang April wurde die Region Kiew befreit. Mein neuer Freund sammelte Hilfsgüter und brachte sie bei der ersten möglichen Gelegenheit nach Borodjanka. Einige Wochen darauf fuhr er erneut los.
Bei seiner zweiten Reise Mitte April fuhr ich mit. Viele Orte und Objekte waren vermint, man beseitigte immer noch Trümmer. Die Stadt ist nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten, es gibt keinen Strom. Bislang funktionieren nur kommunale Einrichtungen und Ausgabestellen für humanitäre Hilfe. Eine offensichtliche Bedrohung gab es dort nicht mehr.
Aber wie ein großer schwarzer Schatten hing sie über allem: den zerbombten Hochhäusern, einigen verwahrlosten Einheimischen, die ihr Essen immer noch auf Feuern in den Innenhöfen kochen und erzählten, wie sie sich ängstlich in ihre Keller verkrochen hatten, um nicht von den russischen Soldaten entdeckt zu werden. Über die Begegnungen mit ihnen hat hier jeder seine eigene Geschichte.
Einen Keller kann ich nicht vergessen. Hier lebten noch im März Menschen. Ihre Sachen blieben zurück, als ob sie dorthin zurückkämen. Aber sie kommen nicht zurück. Einige von denen, die sich dort versteckten, leben nicht mehr. Ein Bombentreffer hat in diesem Haus den ganzen Eingang bis zum Keller zerstört …
Alle diese Städte und Dörfer im Kiewer Gebiet, in die der „russische Frieden“ kam, Borodjanka, das ich bis dahin nicht gekannt hatte – sie wurden zu menschlichen Schutzschilden zwischen den Besatzern und Kiew. Sie wurden schwer getroffen und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen und mich dazu verhalten soll.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September als Dokumentation heraus.
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