: Bootstour im Sumpf
ARGENTINIEN Ehemalige Wilderer wachen über die Tier- und Pflanzenvielfalt in der Sumpflandschaft Iberá
■ Der Weg: Die Esteros del Iberá liegen in der Provinz Corrientes, im argentinischen Nordosten. Der kleine Ort Colonia Carlos Pellegrini ist Ausgangspunkt für die Erkundung der Wasser- und Sumpflandschaft. Die einzige ganzjährig befahrbare Verbindungsstraße nach Colonia Carlos Pellegrini führt über die Kleinstadt Mercedes. Die Busfahrt von Buenos Aires nach Mercedes dauert zehn Stunden, die Weiterfahrt nach Colonia Carlos Pellegrini drei bis vier. Wer fliegen will, kommt bis in die Provinzhauptstadt Corrientes und muss dort mit dem Bus über Mercedes nach Colonia Carlos Pellegrini.
■ Die Unterkünfte: Colonia Carlos Pellegrini (www.coloniapellegrini.gov.ar) bietet Unterkünfte in allen Preislagen. Vorherige Reservierung wird dringend empfohlen. Hochsaison ist in den Monaten Juli und August.
■ Der Campingplatz am Ortseingang hat ganzjährig geöffnet und überrascht mit seiner hervorragenden Ausstattung. Rucksacktouristen übernachten gern in der Hospedaje Iberá.
■ Der Kontakt: Wer Angebote von Unterkünften, Anreise- und Abholservice sowie Exkursionen in die Sümpfe einholen will, kann dies bei Iberá Expediciones auch in englischer Sprache tun (www.iberaexpediciones.com).
VON JÜRGEN VOGT
Staub legt sich auf die schwitzenden Passagiere. Der Bus von Turismo Iberá rumpelt über die Schotterpiste von Mercedes nach Colonia Carlos Pellegrini. Die Sand- und Schotterpiste ist die einzige Verbindung. Vier Stunden schüttelt er auf den 120 Kilometern seine Fahrgäste durch – wenn nicht wieder die Kupplung streikt oder der Reifen platzt.
„Die Busse kommen schon kaputt vom Hersteller,“ spotten die Einheimischen. Ramón Molina verkneift sich den Satz. Er sitzt neben dem Fahrer. In Mercedes war er auf der Behörde, jetzt fährt er zurück zu seinem Arbeitsplatz. Molina ist Chef der Parkwächter im Naturschutzgebiet Esteros del Iberá in der Provinz Corrientes im Nordosten Argentiniens.
Corrientes ist die wasserreichste Provinz des südamerikanischen Landes. Nicht nur wegen der beiden großen Flüsse, die die Provinz förmlich umrahmen, sondern auch wegen der ausgedehnten Sumpfgebiete. Das größte sind die Esteros del Iberá, eine nahezu 5.000 Quadratkilometer große Wasser- und Sumpflandschaft. Sie ist zugleich einer der größten Süßwasserspeicher Südamerikas.
Iberá gehört zur Sprache der Guaraní und bedeutet „glitzerndes Wasser“. Es heißt, die Gegend sei sogar noch artenreicher als der Pantanal in Brasilien. Eine Besonderheit sind die schwimmenden Inseln, die sich auf lose mit dem Boden verankerten Vegetationsmatten bilden.
„Der Tourismus hier ist sanft“, sagt Molina. Aber was passiert, wenn sie die Straße asphaltieren? Das würde nicht nur zu viele Touristen bringen, auch der Schwerlastverkehr von und nach Paraguay, Brasilien und Chile würde dann hier durchrauschen. Vor allem die Hotelbesitzer haben sich am vehementesten gegen den Teerbelag gewehrt. „Die geplante Asphaltstraße soll jetzt wie ein großer Halbmond um den Ort herumführen“, ist auch Molinas erleichtert. Der Fahrer nickt unentschieden und legt knirschend den dritten Gang ein.
Lautstark begrüßen die Brüllaffen die Besucher am Eingang zur Reserva Provincial Iberá. Hier in den kleinen Waldgebieten von der großen Wasser- und Sumpflandschaft schwingen sie durch die Baumkronen. Einige Carpinchos – Wasserschweine – haben sich zur Begrüßung versammelt. Ein Ciervo de los Pantanos, ein Sumpfhirsch, hebt sein Geweih und trottet davon. Und dort bewegt sich plötzlich ein alter Autoreifen? Das erste Yacaré flüchtet vor den noch ungeschulten Blicken der Neuankömmlinge ins Schilf. Bis zu 2,50 Meter lang können die Kaimane in den Esteros werden.
Seit 1983 sind die Sümpfe Naturreservat. Hier wachsen rund 1.400 Pflanzenarten, leben 350 Vogel- und 125 Fischarten, viele Reptilien und Säugetiere. Kaimane, Wasserschweine und Sumpfhirsche sind keine Seltenheit.
Das 700-Seelen-Dorf Colonia Carlos Pellegrini ist Ausgangspunkt für Bootsfahrten, Reittouren oder Nachtwanderungen in und um die Esteros del Iberá.
Im Besucherzentrum kommt Ramón Molina ins Erzählen. Seine Familie ist von hier. „Mein Vater hat 15 Jahre lang gejagt. Ich bin hier zur Schule gegangen, und meine erste Arbeit hatte ich in den Esteros.“
Viele Wege und Trampelpfade der Jäger sind wieder verwildert und zugewuchert. Ein Drittel der Bevölkerung lebte vor der Errichtung des Schutzgebietes von der Jagd. Der Rest arbeitete auf Reisfeldern oder in der Viehzucht. Im Winter jagten sie Flussotter und im Sommer Yakarés.
Dann kam das Schutzgebiet. „Der erste Direktor kannte uns alle. Er sagte uns, das alles hier wird bald ‚ein Reserva und die Jagd wird verboten‘. Wir waren Jäger, unser Blick war geschult, wir kannten alle Tricks. Er hat uns mit der Arbeit als Parkwächter geködert.“
Vor allem Molina sollte die anderen überzeugen. „Alle, die wir 1983 eingestellt wurden, waren zuvor illegale Jäger, Wilderer eben.“ Vom freien Jäger zum fest angestellten Parkwächter mit geregeltem Einkommen und Sozialversicherung. „Das war ein gewaltiger Sprung“, schmunzelt der heute 60-Jährige.
Doch schon damals gingen sie kaum noch auf die Jagd. „Die Esteros waren leer. Wir hatten so ziemlich alles erlegt und verkauft. Einige Arten waren sogar kurz vor dem Verschwinden.“
RAMÓN MOLINA, PARKWÄCHTER
Molina sagt es mit leiser Stimme, doch schon setzt er wieder kräftig an. „Fast die gesamte Fauna hat sich erholt. Da, schau, die Carpinchis laufen dir durch die Beine. Und du musst wieder höllisch aufpassen, dass du nicht über ein Yakaré stolperst.“ Nur der Sumpfhirsch und auch der kleine Flussotter lassen sich selten blicken. Jaguar, Tapir und Ameisenbär sind bis heute verschwunden.
Knapp zehn Jahre hat es gedauert, bis sich die Tierwelt erholt hatte. Ende der 1980er Jahre tauchten dann erstmals Touristen auf. Die fuhren damals mit den Parkwächtern in die Esteros, erzählt Molina. Zehn Liter Treibstoff und ein Marmeladenglas voll Öl für den Zweitakter mussten die Touristen mitbringen. „Wir fuhren mit ihnen auf die Insel, machten unsere Arbeit, übernachteten im Zelt und kamen am anderen Tag zurück.“ Als Erster baute ein Engländer 1988 ein Rancho, ein kleines Hotel, aus Ziegelsteinen und Schilfdach, also nicht wie üblich aus Lehm.
Susana Giménez lebt schon seit 15 Jahren im Dorf. Geboren und aufgewachsen ist sie auf einer schwimmenden Insel in den Sümpfen. „Auf unserer Chacra war es wunderschön. Wir hatten eine kleine Farm. Ringsum war nur Wasser“, erzählt sie. „Wir lebten von dem, was die kleine Farm hergab. Orangen, Süßkartoffeln, Maniok, Melonen, alles wuchs fast von allein. Fleisch hatte mein Vater immer mitgebracht.“ Der Vater arbeitete auf den Reisfeldern. Er kam alle zwei, drei Wochen nach Hause.
„Alle meine Geschwister sind dort geboren. Papa war die Hebamme.“ Nie hatten sie einen Arzt gebraucht. Bei einer Grippe hatten sie ihre selbst gemachte Arznei: Tee aus Orangenblätter oder Eukalyptus. Dass sie nicht zur Schule ging, war kein Problem. „Wir kannten das gar nicht.“
Heute leben noch rund 25 Familien in den Sümpfen, weiß Parkwächter Molina. Aber es sind alte Menschen, und sie werden die Sümpfe nicht mehr verlassen. „Junge Menschen sind nicht darunter.“ Auch keine Jäger. „Wilderer sind heute keine Gefahr mehr für die Tiere“, ist sich Ramón Molina sicher. Gefährlich sind die Flächenbrände, die in den trockenen Sommermonaten von den umliegenden Weiden auf die Esteros übergreifen. „Unmöglich, diese Brände zu löschen.“ Das trifft dann nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Tierarten, die Nester bauen, die der Wasservögel und vor allem die der Yakarés. „Da gehen dann gleich 40 Eier pro Nest kaputt.“
Ramón Molina will in fünf Jahren in Rente gehen. So lange wird er sein Wissen an seine Kollegen weitergeben. Dann will er mit seinem Kanu wieder Besucher durch die Sümpfe fahren. Er hofft, dann auch wieder häufiger sein Lieblingstier zu sehen, den kleinen Flussotter.