Bootsflüchtlinge in Tunesien: "Ich würde es wieder machen"
44 Flüchtlingen hat der Fischer Zenzeri das Leben gerettet. Dafür soll er zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Am Mittwoch verhandelt ein Gericht in Palermo seinen Fall neu.
TEBOULBAH taz | Es ist nur ein Katzensprung zu den Bettenburgen von Monastir. Doch kaum einer der vielen ausländischen Badegäste, die an Tunesiens Strände kommen, verirrt sich je nach Teboulbah. Das Städtchen an der Ostküste hat nicht ganz das Zeug zum Touristenidyll.
Abdel Basset Zenzeri will trotzdem bleiben. Neulich wurde seine vierte Tochter geboren, davor hat er sein Haus fertig gebaut und seit einem Jahr hat der Fischer mit kurzen braunen Locken und einem ordentlich in Form gebrachten Bart auch wieder ein Schiff. Wenn Zenzeri nicht fürchten müsste, bald in Italien ins Gefängnis zu müssen, dann wäre seine Welt wohl in Ordnung.
Zenzeri, Ende dreißig, sitzt in einer braunen Lederjacke vor einem Teehaus an der Hauptstraße von Teboulbah, neugierig beäugt von den Männern, die an der Straße hocken oder an kaputten Mofas herumschrauben. Jeder in der Stadt weiß, was Zenzeri, der Kapitän, getan hat: Genau wie die berühmt gewordene Besatzung der Cap Anamur hat Zenzeri mit einer Gruppe tunesischer Fischer afrikanische Bootsflüchtlinge aus Seenot gerettet.
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Und genau wie den Cap-Anamur-Leuten wird auch Zenzeri und einem weiteren Kapitän, Abdel Karim Bayoudh, deshalb auf Sizilien der Prozess gemacht. "Was wir getan haben, war eine Selbstverständlichkeit", sagt Zenzeri. Dass die italienische Justiz das auch so sehen wird, darauf vertraut er lieber nicht: Der Gerichtsverhandlung bleibt er fern. Ein italienischer Anwalt wird ihn vertreten.
Kurs auf Lampedusa
Am 8. August 2007 war eine Gruppe von Fischern um Zenzeri auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Insassen aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Marokko, Togo und der Elfenbeinküste gestoßen. Das Boot trieb bei schwerer See manövrierunfähig in maltesischen Hoheitsgewässern. Darin saßen auch zwei Kinder, eines von ihnen behindert, und zwei schwangere Frauen. "Sie mussten so schnell wie möglich an Land", sagt Zenzeri.
Die "Mohamed Ed Hedi" und die "Morthada", die beiden Boote der Fischer, setzten SOS ab und nahmen Kurs auf das 40 Seemeilen entfernte Lampedusa. "Das war der nächste Hafen, nach Malta oder zurück nach Tunesien zu fahren, das hätte keinen Sinn ergeben."
Die von den Fischern informierten tunesischen Behörden schickten Faxe nach Rom und Malta. Mit Angaben der Koordinaten wiesen sie darauf hin, dass die zwei Boote Schiffbrüchige gerettet hatten und diese teils ärztliche Hilfe brauchten. Da alle verfügbaren tunesischen Einheiten zu weit entfernt waren, baten sie die Nachbarländer, "geeignete Maßnahmen einzuleiten". Die italienische Küstenwache interpretierte dies auf ihre Weise. Sie schickte eine Patrouille.
Was dann geschah, schilderte Zenzeri später so: Rund eineinhalb Stunden nach dem Notruf sei die Guardia erschienen. "Sie wollten die Menschen von unseren Booten auf ihr Schiff holen, aber es ging nicht, weil die See fürchterlich war." Der Kommandant habe sie aufgefordert, ihnen zu folgen. Etwa siebzehn Meilen vor Lampedusa sei ein Kriegsschiff erschienen. "Die Besatzung schickte einen Arzt. Ein schwer krankes, behindertes Baby wurde ihm überreicht, aber er hat es wieder zurückgegeben, schon nach einer Minute, ich konnte es kaum fassen."
Eine hochschwangere Frau, die "fast am Sterben war", sei unter den Schiffbrüchigen gewesen, doch die hätten die Italiener nicht angenommen. Schließlich sagte man ihnen, sie sollten nach Lampedusa fahren. Daraufhin habe er die Maschinen angeworfen. "Jetzt hatte ich eine klare Order, jetzt konnte ich fahren."
Vertreter der italienischen Marine gaben vor Gericht an, dass Zenzeri und Bayoudh sich geweigert hätten, dem Befehl zur Umkehr Folge zu leisten.
Zenzeri sagt, dass ihn noch mehr als der Verlust seines Schiffes schmerzt, dass man ihn vor Gericht als Lügner bezeichnet hat.
Was an Land geschah, ist indes unstrittig: Die Tunesier wurden unter dem Vorwurf der "Beihilfe zur illegalen Einreise mit Profitzweck" verhaftet, ihre Boote festgesetzt. Die geretteten Afrikaner kamen in ein Internierungslager. Fast fünf Wochen mussten die Fischer im Gefängnis bleiben. Die Behörden suchten nach belastenden Indizien.
Auf einem der Boote wurde ein Satellitentelefon gefunden. Die Fischer bestanden darauf, dass die Schlepper es den Afrikanern gegeben haben, bevor sie diese auf dem Schlauchboot allein ließen. Hinzu kam, dass weder auf der "Mohamed Ed Hedi" noch auf der "Morthada" Netze oder Fang zu finden waren. Zeugen erklärten, weshalb: Die Boote waren in einer Gruppe unterwegs, die Fischfang "a cianciolo" betrieben. Dabei handelt es sich um eine Art Treibjagd zur See. Mit starken Leuchten scheuchen kleinere Boote Sardinenschwärme auf und treiben sie so den eigentlichen Fangbooten zu. Es nützte nichts. Italienische Zeitungen schrieben, dass die Fischer "Menschenhändler" seien.
Keine Nachricht
"Zwei Wochen war ich komplett ohne Nachricht, ich wusste nicht, was passiert war", sagt Zenzeris Frau. Sie habe bei allen nachgefragt, die Fischer am Hafen hätten ihr erzählt, dass ihr Mann in Italien im Gefängnis ist, und dass es "sehr schwer werden wird, da wieder rauszukommen". Der Bürgermeister habe gemutmaßt, es könne zehn Jahre dauern.
Er irrte sich. Am 10. September 2007 kamen fünf der Fischer wieder auf freien Fuß. Sie durften nach Teboulbah zurückkehren. Die beiden Kapitäne wurden bei einem Orden in Liccata auf Sizilien unter Hausarrest gestellt. Erst als eine Gruppe von 111 EU-Parlamentariern eine Petition für ihre Freilassung unterzeichnete, wurden auch sie zwei Wochen später vorerst wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Schiffe "Mohamed El Hedi " und "Morthada", Grundlage der Existenz der Fischer, gaben die Behörden nicht wieder heraus.
"Ich wurde beschuldigt, dass ich die Leute aus Libyen geholt und sie die ganze Zeit an Bord gehabt hätte", sagt Zenzeri. Was folgte, war eine jahrelange, zermürbende Auseinandersetzung mit den italienischen Behörden. Die Lizenzen zur Hochseefischerei wurden beschlagnahmt und nicht erneuert. Jahrelang waren die sieben arbeitslos.
Die Staatsanwaltschaft klagte sie schließlich wegen einfacher "Beihilfe zur illegalen Einreise" an - der Vorwurf der Profitabsicht wurde fallen gelassen. Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft drakonische Strafen: drei Jahre Haft und 440.000 Euro Geldstrafe. Im Prozess vertrat der damals diensthabende Kommandant der italienischen Küstenwache die Auffassung, die Migranten seien nicht in Lebensgefahr gewesen. Deshalb habe es sich nicht um eine Rettungsaktion gehandelt. Es sei die Pflicht der Küstenwache gewesen, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern.
Im Jahr 2009, kurz vor dem Ende des ersten Prozesses, sagte Zenzeri einer Vertreterin der Hilfsorganisation Borderline Europe, die ihn unterstützte, er hätte sich "aufgehängt", wenn es nicht die Familie und die Kinder gegeben hätte. Nach seiner Rückkehr nach Tunesien habe man ihn hochgelobt, doch dann sei das Interesse schnell erloschen. Alles habe er verkaufen müssen, sogar den Schmuck seiner Frau, um leben zu können. "Ich hatte keine Arbeit und konnte meine Kinder nicht ernähren. Ich lebte von Krediten und vom Betteln."
Am 17. November 2009 fällte das Gericht in Agrigento sein Urteil. Die Mannschaft und die zwei Kapitäne wurden von der Beihilfe zur illegalen Einreise freigesprochen. Die Richter glaubten den Schilderungen der Tunesier und zwei der geretteten Schiffbrüchigen, dass es sich bei den Angeklagten nicht um Schlepper handelte. Davonkommen sollten sie dennoch nicht: Die Kapitäne Zenzeri und Bayoudh wurden wegen Widerstands und Gewalt gegen ein Kriegsschiff und gegen die Staatsgewalt zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft sowie zur Zahlung der Prozesskosten verurteilt. Sie legten Berufung ein. Seitdem wartet Zenzeri.
Finanziell ruiniert
Sein Haus liegt hinter einer weißen Mauer nahe dem Ortskern von Teboulbah. Den Bau hatten er und seine Frau schon vor der Rettungsaktion begonnen. Die Haft, die lange Arbeitslosigkeit, die Kosten für ein neues Boot haben ihn finanziell fast ruiniert. Doch seitdem er wieder fischen kann, bessert sich die Lage langsam. Von umgerechnet 250 Euro im Monat müssen er und seine Familie nach Abzug der Kredite leben. "Aber das ist okay", sagt Zenzeri. Im Wohnzimmer steht ein großer Fernseher und Goldnippes, die älteste Tochter spielt mit einem Handy, Zenzeris Frau bringt Birnensaft.
Er ist erleichtert, dass mit dem Sturz Ben Alis auch der örtliche Polizeikommandant untergetaucht ist. Als Angeklagten hatte das alte Regime ihn stets im Auge. "Man kann sich jetzt wieder freier bewegen", sagt er. Ob eine neue Regierung ihn ausliefern würde, ist offen. Sehr wahrscheinlich ist es nicht.
An ihm sei erfolgreich ein Exempel statuiert worden: "Alle hier wissen, was mir passiert ist. Natürlich haben die Leute Angst davor, in die Situation zu kommen, Schiffbrüchigen zu begegnen." Dies gelte zwar auch für ihn. Doch was dann geschehen würde, sei klar: "Ich würde es wieder tun. Alles andere könnte ich niemals verantworten."
Der Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Buch "Europa macht dicht".
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