: Bonner Amoklauf
■ Zum faktischen Einreiseverbot für Polen
Jahrelang dienten die Ausreisebeschränkungen für die „Brüder und Schwestern im Osten“ als Kronzeugen für Unterdrückung und Zwangsherrschaft jenseits des eisernen Vorhangs. Nun zieht der „freie Westen“ seinen eigenen Vorhang zu. Und wie es sich für ein kapitalistisches Land gehört, ist dieser Vorhang nicht mit Uniformen oder gar Schießbefehlen bestückt, sondern mit echter Deutschmark. Fünfzig Mark pro Tag sollen polnische StaatsbürgerInnen in Zukunft für den Eintritt in das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik zahlen
-eine Summe, die wohl von kaum einem Polen aufzubringen ist und die den jahrelang heftig geschmähten Zwangsumtausch, den Bundesbürger bei ihren Reisen nach Polen oder in die DDR entrichten müssen, faktisch um rund das doppelte übersteigt.
Der Fünfzigmarkschein, den Bonn in Zukunft an der Grenze als Eintrittskarte verlangen will, kommt einem Paßstempel „Einreise verboten“ gleich. Er ist nichts anderes als ein Einreiseverbot und das Ende einer sich im Alltag entwickelnden ganz praktischen Ost-West-Beziehung.
Der Bonner Kabinettsbeschluß ist aber auch Teil eines politischen Amoklaufs, den die Bundesregierung derzeit in ihrer Asyl- und Aussiedlerpolitik einschlägt. Denn die nun beschlossene Fünfzig-Mark-Hürde ist der Rohrstock eines um die Klassendisziplin fürchtenden Lehrers, mit dem die Polen dafür geprügelt werden, daß sie seit einem Jahr das Gros der Asylbewerber und Aussiedler stellen. Aus Angst vor einem massenweisen Stimmverlust am rechten Wählerrand hatte die Bundesregierung schon am Dienstag Aussiedler zu Zwei-Drittel -Deutschen herabgestuft. Künftig sollen Aussiedler kein Recht mehr auf freie Wahl ihres Wohnorts haben. Um die vollen Grundrechte genießen zu dürfen, erscheinen die Aussiedler nun plötzlich doch nicht deutsch genug.
Vera Gaserow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen