Bob Dylans neues Album: Korridor mit tausend Türen
Die Sphinx spricht: Bob Dylan findet auf seinem neuen Album, „Rough and Rowdy Ways“, zur Misere der USA interessante historische Analogien.
Mit „Rough and Rowdy Ways“ veröffentlichte Bob Dylan sein 39. Studioalbum, das erste mit eigenen Songs seit „Tempest“ vor acht Jahren. Es erscheint eine Unmenge an Rezensionen – und wie immer: Die Schreibenden versuchen, das neue Werk zu durchdringen, zu ergründen, was der Künstler sagen will. Aber auch diese Schatzkiste mit ihrem funkelnden Inhalt nur kognitiv erfassen zu wollen geht an Dylans Kunst vorbei. Weit vorbei.
Meine Freundin Christl gehört wie Bob Dylan zur unmittelbaren Nachkriegsgeneration. Sie lebt seit mehr als 70 Jahren in der ostbayerischen Oberpfalz, spricht kein Englisch und ist einer der größten Dylan-Fans (dort sagt man „Dülln“), die ich kenne. Als ich mit neun Jahren mit dem Radio unter der Bettdecke Dylan-Fan wurde, verstand auch ich noch kein Englisch. Aber ich verstand Dylan.
Denn es gibt kein gutes Lied mit einem schlechten Text. „I can’t sing a song that I don’t understand“, heißt es in dem neuen Song „Goodbye Jimmy Reed“. 12Bar Blues, großartige Performance von Bob und seiner Touringband. Aber warum ausgerechnet Jimmy Reed? Natürlich, Reed spielte Gitarre und Mundharmonika gleichzeitig. Die Harmonika festgezurrt an einem Gestell um seinen Hals. Ja, klar. Soll das ein Selbstgespräch sein? Und vor allem warum jetzt im Jahr 2020? Aber lassen wir das.
„I can’t sing a song that I don’t understand.“
Dass Dylan den Song versteht, merkt man definitiv beim fantastischen „Key West“. Eine gesangliche Meisterleistung, mit der seine Fans vor jedem Gericht der Welt beweisen können, dass er nicht nur der größte Songwriter, sondern eben auch der größte Sänger der letzten hundert Jahre ist.
Jubelnd durchdrehen
Seit 39 Jahren besuche ich Konzerte von Bob Dylan. Ich höre die neuen Lieder und stelle sie mir in Liveversionen vor. Auf welche Songs freue ich mich, vor welchen hab ich Angst? Bei „Key West“ wird Christl strahlen, ich werde jubelnd durchdrehen – bei „Crossing the Rubicon“ eher das Bier holen gehen.
Bob Dylan: „Rough and Rowdy Ways“ (Columbia/Sony)
Das neue Album ist Dylans lohnendstes Werk mindestens seit „Love and Theft“ von 2001. Dazwischen gab es insgesamt sieben Alben, drei mit Originalmaterial, aber auch die hundert Folgen der „Theme Time Radio Hour“. Diese Radiosendungen (immer noch nachzuhören im Internet) waren wie Dylans Musik ein Korridor mit tausend Türen.
„Was weißt du über das Sand-Creek-Massaker von 1864?“, fragte Dylan zum Beispiel einen Interviewer. Die Thematik ist sowohl mir als auch dem Interviewer Douglas Brinkley entfernt geläufig. Damals wurden Hunderte Cheyenne und Arapahoe-Indianer von US-Truppen in Colorado abgeschlachtet. Mit Dylan geht man auf Erkundungstour. In Büchern, im Internet, in Filmen, aber auch in seinen Songs.
Interview in der New York Times
Und es ist bestimmt kein Zufall, dass im Zusammenhang mit „Rough and Rowdy Ways“ die Rede gerade auf dieses Massaker kommt. Das Album atmet tiefe Endzeitstimmung. Aber, ich möchte fast sagen, auf eine beruhigende Weise. Irre, oder?
Anlässlich des neuen Albums hat Dylan der New York Times, genauer gesagt jenem Douglas Brinkley, letztes Wochenende ein Interview gegeben. Die Sphinx spricht. Das ist schon mal an sich bemerkenswert – und Dylans sehr direkte Antworten auf Brinkleys Fragen setzen die Songs des Albums dann auch in einen Kontext zum Zeitgeschehen. Eigentlich unglaublich, wenn man sich seine jahrzehntelangen Katz-und-Maus-Spiele mit den Musikjournalist*innen, die bestens dokumentiert sind, vor Augen hält. „Something is happening, but you don’t know what it is, do you, Mr. Jones?“
Dabei wäre es so einfach: Einen Schritt zurücktreten bitte, sagt er im Interview, und wie bei einem Gemälde das Ganze ins Blickfeld nehmen.
Der falsche Prophet
„I ain’t no false prophet“, heißt es auf dem neuen Album. Ist das Zufall oder Absicht? Da fällt mir doch gleich wieder die Oberpfalz ein: Der ehemalige Regensburger Theologieprofessor Josef Ratzinger – der spätere Papst Benedikt – erklärte in seinem Buch „Johannes Paul II. – Mein geliebter Vorgänger“, dass er 1997 vergeblich versucht habe, den Auftritt von Dylan beim Kirchentag in Bologna zu verhindern, und nannte den Sänger einen falschen Propheten. Würde mich wundern, wenn das Mr. Bob nicht bekannt wäre.
Bob Dylan ist Akteur und Chronist zugleich. Einer der Chronisten freilich, die alles durcheinanderwerfen, um es neu zusammenzusetzen. Zeitgeschichte ist Pop-Historie, und in „Murder Most Foul“, dem Zehnten, dem Finale des neuen Albums, spürt man in jeder gesungenen Zeile die ungebrochene Freude an der eigenen Schaffenskraft des 79-jährigen Rockstars. Vor zwei Monaten hat er das Lied vorab mitten in die Pandemie platzen lassen: die Geschichte der 1960er Jahre – von Präsident Kennedys Ermordung bis zum Woodstock-Festival. „Murder Most Foul“ dauert 17 Minuten, und doch ist es der Song, der bei jedem Hören zu schnell vorbeigeht und einen die Repeat-Taste drücken lässt.
Im Times-Interview spricht er über den Ozean am Point Dume, über die Pandemie, über die eingeengte Weltsicht seiner eigenen Generation und über George Floyd: „Lasst uns hoffen, dass die Familie von George Floyd und unsere ganze Nation so schnell wie möglich Gerechtigkeit erfahren wird.“
Der Meister der Andeutung äußert sich sehr deutlich.
Nur nicht festnageln lassen
Sonst spricht und textet er immer noch getreu dem Credo: Nur nicht festnageln lassen. Ja, das hat ihn rückblickend vor manchen Peinlichkeiten bewahrt und hat so viele seiner Kompositionen gerade deshalb zu Liedern für die Ewigkeit gemacht. Das einzige Thema, bei dem Dylan auch in seinen Songs immer glasklar formulierte, egal ob es um „Medgar Evers“, „The Ballad of Emmett Till“, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „George Jackson“ oder in seinem grandiosen Südstaaten-Epos von 1983 um „Blind Willie McTell“ ging, das war der Rassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen in den USA.
„And he’s taught how to walk in a pack / Shoot in the back with his fist in a clinch. / To hang and to lynch. / With his head ’neath his hood. / To kill with no pain. / Like dog on a chain. / He ain’t got no name / He’s only a pawn in their game.“
Diese Zeilen schrieb einst der 22-jährige Dylan und lieferte damit die bis heute grausam und präzise gültige Beschreibung der rassistischen Sozialisation in einem rassistischen System.
Polizei- und Justizwillkür
Und 1975 zuckten auch die Leiber der deutschen Jugendlichen in den Dorfdiscos achteinhalb Minuten lang zu Dylans Kreuzweggeschichte über den schwarzen Mittelgewichtsboxer Rubin „Hurricane“ Carter. Polizei- und Justizwillkür, Vorurteile und Vorverurteilung. Daran hat sich nichts geändert. Goddamn!
„Es hat mich ohne Ende krank gemacht, zu sehen, wie George zu Tode gequält wurde“, gestand Dylan in seinem Interview mit der New York Times. „The Lonesome Death of George P. Floyd“, ich denke, wir werden noch so ungefähr sieben, acht Jahre auf diesen neuen Dylan-Song warten müssen. Aber er wird beeindruckend sein.
PS: Innen im Klappcover findet sich ein Foto von Jimmie Rodgers und der Carter Family aus den 1930er Jahren. Und Sara Carter ist es auch, die nach meiner Meinung die Einzige wäre, die Dylan die Position als „greatest Singer of the last 100 years“ streitig machen könnte. Soll das ein Zufall sein?
Erhard Grundl ist kulturpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.
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