: Bloß keine Nulldiät
■ Um den Einigungsvertrag glatt durchzukriegen, dachte die Volkskammerpräsidentin an „Abstimmungszulage“
Berlin (taz) — Wer hätte das von der adretten Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl gedacht: das Händeheben der Ostberliner Parlamentarier für den Einigungsvertrag an die Forderung nach zwei zusätzlichen Monatsdiäten zu knüpfen. „DDR-Abgeordnete erpressen Kohl“, titelte denn auch reißerisch die Springer-Postille 'Bild am Sonntag‘. Das Blatt druckte gestern ein „Empfehlungsschreiben“ von Bergmann-Pohl an Kanzler Kohl und Innenminister Schäuble, worin von einer „starken Unruhe“ in der Volkskammer die Rede ist, die zu „Unsicherheiten für die Schlußabstimmung über den Einigungsvertrag“ führten. Die besorgte Präsidentin legte den Bonnern dringend nahe, den „Abgeordnetenstatus für alle Volkskammerabgeordneten bis zum 2. Dezember“ zu sichern. „Nur so“, heißt es in dem Telefax, könne „die notwendige Motivation der Abgeordneten für die Zeit bis zum 3. Oktober“ aufrechterhalten werden. Da nur 144 der 400 DDR-Parlamentarier in den gesamtdeutschen Bundestag einziehen, verlieren mit der Auflösung der Volkskammer 256 Mandatsträger ihre Bezüge.
Das Ansinnen der Zweidrittelmehrheit-Beschafferin Bergmann- Pohl, diesen 256 jeweils ein Sondersalär in Höhe von 11.800 Mark zuzuschustern, hat im Wasserwerk am Rhein einen Aufschrei ausgelöst. Daß östliche Abgeordnete die Lektion, da hinzulangen, wo's was zu holen gibt, so schnell lernen würden — damit hatte im Bundestag niemand gerechnet. SPD-Fraktionsvize Wilfried Penner, der sich selbst am Donnerstag eine Diätenerhöhung von zusätzlich 612 Mark pro Monat bewilligte, sprach von „politischer Erpressung zugunsten privater Eigeninteressen“. Die gutversorgten Herrn Kohl und Schäuble senkten empört den Daumen. Indes hat die übereifrige Volkskammerpräsidentin ihren Fauxpas kapiert. Sie zeigte sich „völlig von den Socken“ angesichts der Vorwürfe, sie wolle Vorteile erpressen, und bezeichnete sie als abenteuerlich. Thomas Worm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen