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Blinde Flecken

Die 25. Französische Filmwoche zeigt in Berlin, wie viel Bedeutung im Übersehenen steckt

Von Luca Klander

„Ich weine nicht, nur meine Augen“. Lilian Steiner sitzt mit festgezurrtem Gesicht da, während der Arzt den blendenden Lichtspalt auf ihrer Pupille platziert. Etwas muss doch entzündet sein, irgendetwas irritiert, vielleicht ein Fremdkörper? „Hast du was gefunden?“ Ununterbrochen laufen Tränen an ihren Wangen herab. „Nein, alles normal.“ Ihre Augen weinen, seitdem sie vom Suizid ihrer langjährigen Patientin erfahren hat. Doch die von Jodie Foster verkörperte Psychiaterin, die verinnerlicht hat, lieber andere zu durchleuchten, vermutet stattdessen einen Mord. Der Film „Vie Privée“ folgt ihr auf einer Spurensuche, die sich unmerklich in eine Erkundung ihrer eigenen Schattenseiten verwandelt.

Blinde Flecke durchziehen viele der Filme dieser 25. Französischen Filmwoche. Bis zum 26. November entfaltet das Berliner Festival ein Panorama poetischer, politischer, leiser und wütender Arbeiten des jüngsten frankophonen Kinos. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, was geschieht, wenn persönliche Gewissheiten oder gesellschaftliche Selbstbilder ins Schwanken geraten. Ein blinder Fleck ist hierbei nicht einfach etwas, das nicht gesehen wird, sondern ein Aspekt, der aufgrund des Selbstbildes und sozialen Konstruktionen ausgeblendet wird. Wie im Auge der Austrittspunkt des Sehnervs selbst nichts abbildet und doch das Sehen erst ermöglicht, trägt diese Auslassung das Bild, das wir uns von der Welt machen. Wird sie berührt, beginnt es zu bröckeln.

Im Eröffnungsfilm „Der Fremde“ etwa bleibt François Ozon der Handlung des Romans eng verpflichtet, verankert sie jedoch deutlicher im kolonialen Kontext des Algeriens der 1930er-Jahre. Benjamin Voisin spielt Meursault mit einer gewollt irritierenden Teilnahmslosigkeit, die nicht nur die Tat, sondern auch die Gesellschaftsordnung offenbart, in der er lebt. Die segregierte Gesellschaft tritt bei Ozon klar hervor: in der Namenlosigkeit des getöteten „Arabers“, in alltäglicher Ungleichbehandlung und in einer Justiz, die im Gerichtssaal bestehende Hierarchien fortschreibt. „Niemand hat über meinen Bruder gesprochen“, sagt Djemila, die Schwester des von Meursault Ermordeten, und bündelt damit die schmerzliche Unsichtbarkeit. Der dokumentarisch gesetzte Auftakt mit Originalaufnahmen der algerischen Hauptstadt öffnet so den Blick auf jene historische Schieflage, die man bei Camus nur als Hintergrundrauschen vernehmen konnte. Ozon, bei der deutschen Vorpremiere am 20. November anwesend, betonte, wie wichtig es ihm sei, dem Toten einen Namen zurückzugeben. Erst durch diese Kontextualisierung wird deutlich, dass Meursault nicht nur von der Sonne geblendet ist. Auch die koloniale Ordnung prägt sein Handeln, lange bevor die fünf Schüsse fallen.

Von der historischen Blindheit verschiebt sich der Fokus in „15 Liebesbeweise“ auf jene der Behörden. Céline (Ella Rumpf) erwartet ihr erstes Kind – schwanger ist jedoch ihre Frau Nadia. Seit der 2014 in der Nationalversammlung verabschiedeten „Ehe für alle“ steht auch gleichgeschlechtlichen Paaren der Weg zur Elternschaft offen, doch in den administrativen Verfahren wird diese Realität kaum mitgedacht. So gerät Céline unter einen Druck, der Männer und werdende Väter selten trifft: Sie muss ihre Fähigkeit zur Fürsorge belegen und 15 Erklärungen vertrauter Menschen organisieren. „Vor der Adoption ist es, als bekäme Ihre Frau das Kind allein. Für das Baby sind Sie nicht existent“, erklärt die Anwältin, die das Paar begleitet. Wer Céline und Nadia durch die bürokratischen Schritte bis zur Geburt folgt, erlebt ein Verfahren, das eher bremst als stützt. Immer wieder treten strukturelle Ungleichbehandlungen und Erwartungen zutage, die an heteronormativen Vorannahmen festhalten. „15 Liebesbeweise“ eröffnet einen Blick auf Mutterschaft jenseits der Biologie. Ein Prozess, den die Regisseurin Alice Douard selbst durchlebt hat.

Mit „Zone 3“ verlegt Cédric Jiménez die Frage nach dem blinden Fleck in eine dystopische Zukunft. Im Jahr 2045 stützt sich die Polizeiarbeit fast vollständig auf die KI Alma, bis ein Mordfall das System ins Wanken bringt. Wie eng Schutz und Kontrolle beieinander liegen, zeigen auch „Herz aus Eis“ mit Marion Cotillard als kaprizoöse Schmeekönigin sowie „Souleymanes Geschichte“ von Boris Lojkine über einen guineischen Fahrradkurier in Paris. Die Arbeiten der Französischen Filmwoche zeigen, wie lohnend genaues Hinschauen ist. In den kommenden Monaten wird Gelegenheit sein, sie bundesweit in den Kinos zu sehen.

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