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montagsmalerBlind Date im Kreuzkeller

Königin für einen Tag

Ich habe ein großes Talent, Dinge zu verlieren. Am Samstag offenbarte sich dieses Talent erneut, als ich im Kreuzkeller mit 300 anderen Menschen Fußball guckte. Der Kreuzkeller trägt seinen Namen zu Recht, nach wenigen Stufen befindet man sich in einer dunklen, warmen Höhle. Es gibt leckere Burger, und zur WM öffnet diese Kneipe täglich morgens um acht Uhr.

Es war beim drittem Tor der deutschen Mannschaft, als, mitten im Jubel, meine Kontaktlinse aus dem Auge sprang. Linsenträger haben gewöhnlich ein gutes Gehör, mit dem sie orten können, in welche Richtung die Linse plinkt. Doch ich hörte in dem Lärm überhaupt nichts. Natürlich begab ich mich trotzdem auf alle viere und suchte. Doch was ich ahnte, wurde Gewissheit: Die Linse blieb verschwunden.

Mit nur einer Linse sieht man leider furchtbar: Innerhalb von Minuten stellen sich schlimme Kopfschmerzen ein, und man fängt an, ganz scheußlich zu schielen. Also ging ich aufs Klo, nahm die andere Linse auch heraus und ergab mich meiner Blindheit. Auf dem Rückweg stieß ich oft an, Tische und Menschen tauchten plötzlich vor mir im Nebel auf, und ich konnte nicht ausweichen. Doch niemand sah mich böse an, weil ich auf seine Füße trat. Vermute ich zumindest.

Es macht wenig Spaß, Fernsehen zu gucken, wenn man kaum etwas erkennen kann. Also widmete ich mich meiner näheren Umgebung. Da eröffnete sich mir der Vorteil der Kurzsichtigen: Alle Menschen sehen in diesem Zustand gleich gut aus: Über Pickel, Falten, Augenringe oder fehlende Vorderzähne braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen. Ich lächelte verschiedene sehr gut aussehende Männer an, die ich vorher überhaupt nicht bemerkt hatte, und glaube ziemlich sicher zu wissen, das sie zurückgelächelt haben. Einer gefiel mir besonders. Gut, er war ein bisschen klein, das bemerkte sogar ich, trotzdem prostete ich ihm zu. Bis meine Freundin mich zurück in die Welt holte, in der nur das Sichtbare zählt. „Sarah! Hör doch mal auf!“ – „Wieso?“ – „Der ist viel zu klein, Sarah.“ – „Ach du mit deinen Vorurteilen. Kleine Männer können durchaus sexy sein.“ – „Sarah, der ist nicht nur klein, der ist auch höchstens 12 Jahre alt.“ – „Oh! Sicher? Vielleicht wirkt er nur besonders jugendlich?“

Ich versuchte zu retten, was zu retten war, doch meine Freundin zerstörte auch diese letzte Illusion. „Er trinkt Fanta!“ Gnadenlos. Ich aber blieb noch den ganzen Tag die Königin von Kreuzberg, denn ich musste mir niemanden erst schöntrinken.

SARAH SCHMIDT

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