: Blick zurück nach vorn
Präzise Dynamik-Achterbahnfahrten wuchtig in Szene gesetzt: Mit neuem Programm zeigen die Punkrock-Senioren von „Wire“, wie Wertkonservatismus und Innovation zusammengehen
von GREGOR KESSLER
„Es muss eine gute Zeit sein“, sagte Colin Newman vor zwei Jahren mit Blick auf die Köln-Düsseldorfer Elektronik-Posse, „wenn alle Stilgrenzen eingerissen werden und ein paar jugendliche Deutsche die Rockmusik neu erfinden.“ Kurz zuvor hatte sich mit Newmans Band Wire eines der tragenden Fundamente des britischen Punk-Rock-Hauses wieder zusammengefunden. Nicht zum üblichen Einstreichen der Legenden-Dividenden – dazu waren sie schon früher eingeladen worden und hatten abgelehnt. Die vier Herren im Spätsommer des Lebens glaubten vielmehr zu erkennen, dass die Zeit, vor der sie so lange hergelaufen waren, sie nunmehr eingeholt hatte.
Ihren Vorsprung hört, wer etwa noch einmal eine der vier zwischen 1980 und `83 entstanden Platten von Dome, den beiden vormaligen Wire-Musikern Bruce Gilbert und Graham Lewis, auflegt. Überhaupt Elektronik: Jeder der vier Wire-Männer hatte in den vergangenen 20 Jahren weit mehr mit Knöpfen und Computern zu tun als mit Gitarren und Verstärkern.
Doch auch bereits ganz zu Anfang, auf dem 1977 veröffentlichten Debütalbum Pink Flag, waren Wire ein Stück weiter. 21 amphetamingetriebene Stücke fanden sich auf dieser Platte, keines länger als anderthalb Minuten und äußerlich in ihrer kurz, knapp und böse herausgeprügelten Art durchaus dem Formdiktat des Punk gehorchend. Doch die akkuraten Punktlandungen und wütenden Eruptionen der Band wurden bereits damals von ihrem unterschwelligen Melodienreichtum konterkariert. Und Sänger Colin Newman klang wie der unmögliche Bastard aus Johnny Rotten und Bryan Ferry. Was eigentlich nicht hätte funktionieren dürfen, es wurde zu einem der verkannten Meilensteine der Klasse von ‘77.
Ein Jahr später verscherzte es sich die Band, die – wie so viele andere damals – aus Londons Kunsthochschulen erwuchs, endgültig mit der Punk-Fraktion. Der weniger brachiale und gleichzeitig experimentellere Wire-Zweitling Chairs Missing zog 1978 disqualifizierende Vergleiche zu den frühen Pink Floyd an und enthielt mit „Outdoor Miner“ dann auch noch einen perfekten Pop-Song.
Die weitere Geschichte klingt bekannt. 154, das dritte Album von 1979, war das bis dahin am besten ausgearbeitete und am aufwendigsten aufgenommene und gleichzeitig jenes, das sich am schlechtesten verkaufte. Qualität, so mochte es ihnen damals scheinen, lohnt sich nicht mehr. Schon gar nicht Ende der 70er, als Punk zu einer starren Schablone wurde und Post-Punk noch in kommerziell nur begrenzt verwertbaren Kellern stattfand. Da klingt die Flucht in form- und richtungslose „artiness“ zwar trotzig – aber nicht wie eine Lösung. Die Band löste sich vorübergehend auf.
Was ab 1985 folgte, war eine stringente Übersetzung der zwischenzeitlichen elektronischen Aktivitäten der einzelnen Mitglieder in einen Bandkontext. Sequencerproduzierter Avant-Pop, der Wire ein neues, jüngeres Publikum in den USA und Europa erschloss. So aufregend und faszinierend wie in ihren frühen Tagen war die neu ausgerichtete Band dabei nie. Platten wie The Ideal Copy (1987) oder A Bell is a Cup (1988) fehlte die Vision früherer Veröffentlichungen. Live präsentierten sich Wire Ende der 80er als distanziert kühle Kunst-Band im negativen Wortsinn. Die zur Schau gestellte, artifizielle Keimfreiheit schädigte den Ruf nachhaltig.
Mit dem uninspirierten Album Manscape war 1990 der Tiefpunk erreicht. Robert Grey, auf Platten seiner sprichwörtlichen Müdigkeit wegen „Gotobed“ genannt, verließ die Band. Das verbleibende Trio schleppte sich eine Weile als Wir weiter, aber eigentlich war man froh, als man auch von denen nichts mehr hörte. Wer lässt sich schon gerne seine Lieblingsplatten von den gleichen Leuten abstechen?
So war es nicht bedingungslose Euphorie, mit der die Nachricht der reformierten Wire aufgenommen wurde. Zunächst erkannten die wiedergeborenen Wire indes die Qualitäten ihres Gesamtwerks. Bei Konzerten in Großbritannien und den USA spielten sie 2000 fast ausschließlich Stücke der ersten drei Platten. Als Anfang des Jahres das erste neue Material erschien, bestand die Band auch diese Feuerprobe: Read & Burn 01, die erste einer Serie neuer Veröffentlichungen, kombiniert die Energie präzise gespielter Dynamik-Achterbahnfahrten mit der Wucht zeitgenössischer Produktion. Das ist wertkonservativ und innovativ zur gleichen Zeit.
Wenn Gilbert, Newmann, Lewis und Gotobed nun mit ihren neuen Songs auf der Bühne stehen, dann klingt das wieder nah genug an Pink Flag, um auch die frühe Warnung zu wiederholen: Als die Band 1977 zum ersten Auftritt die Bühne des legendären Londoner Roxy Clubs betrat, sagte Newman nämlich schlicht: „Pay attention, we‘re Wire.“
mit Appliance: Mittwoch, 21 Uhr
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