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Bleiben nur Gebeine

Abschied vom schön chronologischen Werte-Ranking: Michael Talke zermalmt tradierte Begriffe und wirft sie dem Zuschauer vor die Füße: „Väter und Söhne“ nach Turgenjew am Thalia Theater

von PETRA SCHELLEN

Der Stoff bleibt klobig. Als hätte der Regisseur versucht, ein Paket in Form zu boxen, das ihm permanent entglitt: Michael Talke hat sich einfach nicht entschieden, ob er mit Brian Friels 1988er Theaterfassung von Iwan Turgenjews Väter und Söhne (1862) ein Märchen erzählen oder persiflieren, ob er die Figuren bemitleiden oder karikieren wollte.

Dabei ist die Idee der Inszenierung, die jetzt am Thalia Theater Premiere hatte, durchaus überzeugend: Mit papierenen Texten müllen die Figuren einander zu, insbesondere die Väter, die über Vergangenes schwafeln: Über Ach und Weh seines Guts lamentiert der halb-liberale, träge Großgrundbesitzer Nikolaj (Hartmut Schories), bis man sich ehrlich zu langweilen beginnt. Eine Komplizenschaft von Regisseur und Publikum? Ist das die einzige Message des zweistündigen Spiels, dessen Protagonisten immer wieder innerliche Turgenjew-Zitate vom Video herab ins Volk schütten? Man begreift schnell: Diese Form der Innenschau ist überholt. Warum also arbeitet sich Talke Szene für Szene daran ab?

Und wieso ist speziell dieser Plot nötig, um ein Kommunikationsleck vorzuführen? Sicher, eine leise Entwicklung gibt es schon: Sind die Jungen anfangs rausgerannt, wenn der Alten Wortschwall begann, bleiben sie später im Raum und machen, körpersprachlich dicht, ihr Ding – etwa im Liebesspiel zwischen dem Nihilisten Bazarow (Felix Knopp) und der Gutsbesitzerin Anna (Natali Seelig), das sich pantomimisch unter Nikolajs Geschwätze legt. Sie stören nicht, die Reden der Alten, sie bringen aber auch nichts.

Doch statt offen zu rebellieren, entscheiden sich die Jungen bald fürs Gewährenlassen, zumal sie so starke Alternativen nicht zu bieten haben. Denn letztlich halten auch die Söhne den Konflikt nicht durch: Nur anfangs rezitiert Pseudo-Dutschke Arkadij (Thomas Schmauser) per Megaphon nihilistische Parolen. Die übrige Zeit wandelt er als stoffelig-rechtschaffener Allesversteher durch die Gegend, dessen Trotz sich allenfalls gegen Bazarow richtet. Und auch wenn Talke es im Vorhinein beteuerte: Es stimmt nicht, dass die Jungen in dieser Inszenierung am Verständnis der Alten stranden, auch nicht, dass die Väter so duldsam sind: Deutlich zynisch verabschiedet Nikolaj den Rebellen Bazarow. „Ich kann es nicht mehr hören“, sagt später Bazarows toleranter Vater (Markwart Müller-Elmau) zu Arkadij.

Vertan wurde hier die Chance, all dies lakonisch abzuspulen, das geheuchelte Verständnis durchzuhalten, das viele Alt-68er-Eltern kultivieren. Stattdessen hat Talke eine Rebellion der Alten inszeniert, einen späten Protest gegen die Auch-Nur-Phrasen der – scheiternden – Jungen: Der plebejisch eingestellte Bazarow regrediert und verliert sich in romantischen Liebesgefühlen zur Aristokratin Anna. Und seine einzige wirklich gesellschaftlich relevante Tat überlebt er nicht: Bei der Krankenpflege infiziert er sich und stirbt zügig an Typhus.

Und genau an diesem Punkt verkehrt sich das so bequem chronologische „konservativ-progressiv“-Werte-Ranking komplett. Nicht nur, dass der Vater den Sohn überlebt hat: Er und seine Frau (direkt dem Millet-Gemälde Angelusläuten von 1859 entstiegen: Katharina Matz) werden angesichts all des passiv-oberflächlichen Geredes zu Revoluzzern allein dadurch, dass sie es schaffen, konstant das Grab des Sohnes zu pflegen: „Sie können sich nicht trennen von dem Ort, wo sie ihrem Sohn und seinem Andenken so nahe sind“, tönt es zum Schluss aus dem Off.

Bleiben also nur Gebeine? Und bedeutet das elterliche Gedenken resignative Hilflosigkeit oder späte Würdigung des Versuchs, Zukunft zu gestalten? Talke lässt es offen. Aber zuvor hat er alle Werte zermalmt und ist dabei – eine geniale Wendung – wieder exakt bei Bazarows Nihilismus angekommen.

nächste Vorstellungen: 10.+11. Oktober, 20 Uhr, Thalia Theater

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