Blanke Nerven vor der Bremer Wahl: Die Mär vom Vorrecht des Stärksten
SPD-Freunde behaupten per Zeitungsanzeige, dass die stärkste Fraktion einen Regierungsauftrag erhalte. Aber dieses Privileg ist frei erfunden.
Am massivsten wird diese Legende derzeit von einer illustren Schar aus dem sozialdemokratischen Spektrum durch die Stadt posaunt: „Die stärkste Partei erhält traditionell den Regierungsauftrag“, heißt es in deren Zeitungsanzeige. Auch in der taz ist sie veröffentlicht worden.
Unterzeichnet wird diese naturrechtliche Aussage von DGB-Chefin Annette Düring als einziger Frau, Ex-Senatoren wie Hermann Schulte-Sasse (parteilos) und emeritierten Professoren wie Rudolf Hickel: viel Ansehen.
Unwahr ist die Aussage dennoch, schon deshalb, weil es keinen Regierungsauftrag gibt. In Monarchien ist das anders. So führt in Dänemark die Königin nach der Wahl mit allen Parteispitzen Vier-Augen-Gespräche und fordert dann diejenigen auf, eine Regierung zu bilden, der sie zutraut, eine stabile Mehrheit zusammenzubekommen. In Deutschland hingegen wurden Regierungsaufträge bis 1933 erteilt. Der letzte ging an Hitler. Seit Ende des Präsidialsystems sind sie abgeschafft.
Hamburg, 23. 9. 2001: Die SPD landet bei der Bürgerschaftswahl mit 36,5 zehn Prozent vor Ole von Beusts CDU. Am 25. 9. beginnt der, mit Schill und FDP zu sondieren.
27. 3. 2011, Baden-Württemberg: CDU 39, Grüne 24,2 Prozent. Tags drauf kündigen Winfried Kretschmann und Nils Schmid den Beginn von grün-roten Koalitionsverhandlungen an.
Schleswig-Holstein, 6. 5. 2012: SPD wird mit 30,4 Prozent knapp nur zweite Siegerin. Montag, 7. 5.: Ihr Fahrplan für Verhandlungen mit SSW und Grünen steht.
20. 1. 2013, Niedersachsens CDU – 36 Prozent, das sind 3,4 mehr als die SPD kriegt, die trotzdem ab 21. 1. mit den Grünen verhandelt.
Thüringen 2014: Wahltag 14. 9., ab 15. 9. Erstgespräch der künftigen rot-rot-grünen Koalitionäre. Stärkste Kraft: die CDU mit 33,5 Prozent.
Das gilt selbstverständlich erst recht in Bremen: Wer mit wem nach der Wahl spricht, um einen Senat zu bilden, dafür gibt es hier „keine Regelungen“, so die Auskunft der Bürgerschaftsverwaltung. „Es braucht dafür auch keinen Auftrag.“ Das wäre ja auch fatal, denn: „Es gibt keine Funktion, die diesen Auftrag erteilen könnte“, so Bürgerschaftssprecherin Dorothee Krumpipe.
Die gab’s in Bremen schon bei den ersten freien Wahlen nicht: Mit 30,2 Prozent hatte 1920 die USPD, also die radikalen Sozialdemokraten, klar die Nase vorn. Zweite Kraft wurden die „Mehrheitssozialdemokraten“, die MSPD. Die trugen mit ihren Stimmen dazu bei, dass den auf unbestimmte Zeit gewählten Senat die nationalliberalen Kräfte um den rechtskonservativen Martin Donandt (parteilos) und den gemäßigten Theodor Spitta (DVP) dominierten. Es gibt also auch keine „Tradition“, die ein Privileg begründen würde.
Die Wahlergebnisse nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Bremen nicht dazu angetan, eine Tradition zu stiften: Weil bis dahin nie auch nur rechnerisch eine Mehrheit gegen die stärkste Partei, die SPD, möglich gewesen wäre, hätte sich die Frage, wer Gespräche führt, theoretisch erstmals 1995 stellen können.
Dafür hätte die CDU seinerzeit jedoch mit den Grünen und dem populistischen Kurzzeit-Bündnis „Arbeit für Bremen“ reden müssen. Von Gesprächen wurde abgesehen. Möglich wären sie jedoch gewesen: „Es ist hier ganz pragmatisch“, so Krumpipe. „Theoretisch kann jede Fraktion loslegen – das geht auch parallel.“
Wie überall: Wer sich zutraut, eine Mehrheit zu organisieren, darf das probieren, unabhängig von der eigenen Größe. Entsprechend haben sich auf Länderebene in den letzten Jahren die Beispiele gehäuft für Regierungsbildungen an der jeweils stärksten Fraktion vorbei – und ohne zuvor mit ihr zu sondieren (siehe Kasten). Denn Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit – und nicht, wie im autoritären Denken, das Recht des Stärkeren.
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