berliner szenen: Bitte zweimal hingucken
Vor dem Rathaus Schöneberg hat sich eine Hochzeitsgesellschaft versammelt. Ein Zeremonienmeister greift in einen Vogelkäfig und gibt Braut und Bräutigam je eine Taube in die Hand. Die Gäste gruppieren sich drumherum. Auf Countdown wirft das Paar die Tauben in die Luft, in die Freiheit. Klatschen, Jubel, Küsse. Alle Frauen tragen lange Kleider. Einige von ihnen dünne Fähnchen mit Spaghettiträgern, dazu hochhackige Riemchen-Sandaletten. Sie müssen tapfer sein im scharfen Nordostwind. Die anderen haben langärmlige bodenlange Kleider an, ihre Schuhe sieht man nicht. Also schön gemischt, die Gesellschaft, keine erzwungene Kleiderordnung. Was mich wundert: Zwei Frauen mit traditionell gebundenen Kopftüchern – die Stirn halb bedeckt, hoher Hinterkopf – tragen Kleider mit tiefem V-Ausschnitt. Erst langsam erkenne ich, dass sie keine nackte Haut zeigen, sondern hautfarbene T-Shirts. Eine gelungene optische Täuschung, sehr dezent und damit das Gegenteil von dem, was die Verkäuferin im nahegelegenen Kiosk präsentiert. Mein Blick stolpert fast in ihr Dekolleté: Die großen Brüste sind zusammengeschnürt und hochgepresst bis fast an die Schlüsselbeine, unter dem Busen nur ein schmaler Stoffstreifen, der den nackten Bauch mehr betont als verhüllt. Die Glitzerapplikation als Hingucker hätte es wirklich nicht mehr gebraucht. Aber: Auch dies ist eine optische Täuschung, die ganze Pracht ist aufgedruckt auf ein eng anliegendes T-Shirt. Die Haut der Verkäuferin ist keinem Windhauch ausgesetzt. Sie habe lange gewartet, bis diese Bestellung endlich aus China eingetroffen ist, und gleich ein weiteres Shirt bestellt, erzählt sie zufrieden. Ihren Kunden zaubere es ein Dauerlächeln ins Gesicht, sie müssten alle zweimal hingucken. Zweimal hingucken musste ich auch. Claudia Ingenhoven
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